Leseprobe
Volvo FH Aero: Die Probe aufs Exempel
Waren zur Präsentation der neuen Volvo FH Aero im Januar nur einige kurze Proberunden auf dem Werksgelände in Göteborg angesagt, folgte rund drei Monate später die Einladung nach Griechenland. In sonnigen Gefilden hatte Volvo Trucks eine beeindruckende Testflotte aufgefahren, um die Neuheiten des Modelljahrs 2024 bei sommerlichen Temperaturen zur erproben. Die knapp 330 Kilometer lange Route führte über Autobahn und Landstraße von Thessaloniki nach Kavala und zurück, vorbei am Koronia- und Volvi-See und die Küste der Ägäis entlang. Nach jeweils einer guten Stunde war Fahrzeugwechsel angesagt, was im Fall der Truckexperten die Reihenfolge ergab: FH16 Aero 780, FH Aero Electric, FM 500 und FH Aero 460. Dass der ebenfalls neue FH Aero LNG zuhause bleiben musste, hatte rein praktische Gründe: In Griechenland gibt es rund 30 CNG-, aber keine öffentlichen LNG-Tankstellen. Generell verfolgt Volvo Trucks aber weiterhin drei Antriebskonzepte: Batterieelektrik, Brennstoffzelle und Verbrenner mit fossilem oder erneuerbarem Diesel, (Bio-)Methan und perspektivisch auch Wasserstoff.
Leider ebenfalls nicht am Start: Das um 25 Zentimeter verlängerte XXL-Fahrerhaus mit über einem Meter breiten Bett, das bei der Vorstellung des FH Aero im Januar so etwas wie der heimliche Star gewesen ist. Denn mit der strömungsgünstigen, weitere 24 Zentimeter nach vorn ragenden Aero-Haube ist es mit den zwecks Aerodynamik gelockerten EU-Längenrichtlinien nun möglich, mit einem FH Aero XXL legal einen 13,6-Meter-Auflieger zu ziehen. Die Frage, ob Volvo allein von den Produktionskapazitäten her mit dem XXL einem DAF XG Konkurrenz machen kann, sah die schwedische Begleitmannschaft locker: Wenn sich ein steigender Bedarf im Fahrerhaus-Werk in Umeå abzeichnen sollte, würde die Produktion der ursprünglich für Australien entwickelten Kabine kurzfristig hochgefahren – „no problem“.
Einen gemeinsamen Nenner der Testwagen bildete der neue Pilot Assist, zuschaltbar über die linken Lenkradtasten. Im Gegensatz zur aktiven Spurrückführung, basierend auf Frontkamera und elektrisch unterstützter Volvo Dynamic Steering, hält das neue System die Spur kontinuierlich und teilautonom. Nimmt man die Hände länger als ein paar Sekunden vom Lenkrad, setzt das eine mehrstufige Warnkaskade bis hin zum völligen Stillstand mit aktiviertem Warnblinker in Gang. Völlig neu ist das nicht (der Mercedes Actros machte 2018 den Anfang und immer mehr Hersteller ziehen nach), was das Volvo-System aber auszeichnet, ist die auffallende Unauffälligkeit: Das korrigierende Gegenmoment am Lenkrad macht sich in FH16 & Co. nur sehr dezent bemerkbar und dürfte so zu einer hohen Akzeptanz bei den Fahrern beitragen. Schade aber, dass das System nur mit Abstandsregeltempomat funktioniert: Ist der Fahrer mit Gasfuß unterwegs und kollabiert, hält die Fuhre nichts mehr in der Spur.
Apropos Akzeptanz: Die Eigenart, den vorübergehend ausgesetzten Tempomaten nur wieder auf das erlaubte Limit zuzulassen, dürfte in Fahrerkreisen nicht sonderlich gut ankommen. Ganz konkret ging es nach jeder Mautstation auf der griechischen Autobahn mit dem Reset-Knopf also nicht wieder auf die vorher eingestellten 85 km/h, sondern erstmal nur auf die strikten 80. Volvo argumentiert mit gesetzlichen Vorschriften, andere Hersteller sehen das lockerer.
Das mit normalem Tempomat, Abstandsregeltempomat oder Pilot Assist aktive I-See-System kombiniert zur drei bis vier Kilometer weiten Vorausschau hinterlegtes Kartenmaterial mit einer Cloud-basierten Streckendatenbank. Letztere dient aber nur noch als Rückfallebene, Priorität für die Geschwindigkeits- und Schaltstrategie haben die Karten. Darin erfasst sind nun auch Kurvenradien, Kreisverkehre und Tempolimits, kombiniert wiederum mit der Verkehrszeichenerkennung der Frontkamera. Die Warnsignale und gegebenenfalls automatischen Verzögerungen des „Intelligent Speed Assist“ können zwar ziemlich nerven, ist aber vom Gesetzgeber so gewollt: Mit der General Safety Regulation (GSR) der EU werden sich nicht nur Volvo-Fahrer daran gewöhnen müssen.
Volvo wäre aber nicht Volvo, gingen die Systeme nicht noch über die Anforderungen der GSR hinaus. Das Seitenradar gibt es beispielsweise beid- statt nur einseitig, verknüpft jeweils mit einem Türöffnungswarner (bleibt nach dem Abschalten des Motors bis zu zwei Minuten aktiv und überwacht den rückwärtigen Verkehr), und die neueste Generation des Frontkollisionswarners mit Notbremse reagiert auch auf Radfahrer und Fußgänger.
Eine Schau für sich ist der 780 PS starke D17-Motor im FH16 Aero 780. In Griechenland zwar als 6×2-Dreiachser am Start, aber dann doch nur auf 38 Tonnen Zuggewicht ausgeladen, lassen sich die wahren Reserven nur erahnen. Die wenigen Hügel stürmt der 780er jedenfalls ohne Tempoverlust hoch – um die Tachonadel zurückweichen zu lassen, müssten mit diesem Gewicht wohl mindestens sechs bis sieben Prozent Steigung her. Kraftentfaltung und Ansprechverhalten sind vom Allerfeinsten, wozu neben dem gewaltigen Drehmoment von 3.800 Nm (bei 1.000 Umdrehungen liegen bereits 550 PS an!) auch der neue einstufige VTG-Lader beiträgt.
Der für HVO freigegebene D17 steht auch mit 600 oder 700 PS zur Wahl und wiegt laut Volvo sogar 70 Kilogramm weniger als der Vorgänger D16. Ein weiterer Pluspunkt: Die Volvo Engine Brake kommt beim 17,3-Liter-Motor auf bis zu 525 kW, womit der 38-Tonnen-Zug auf der griechischen Autobahn die Scheibenbremsen nur an den zahlreichen Mautstationen bemühen muss. Selbige Autobahn ist abschnittsweise von stark unterschiedlicher Qualität, teils mit heftigen Querfugen und Schlaglöchern gesegnet. Im Grunde ideal, um die Federung auszuloten, was im „Vierer-Vergleich“ einen erstaunlichen Gewinner hervorbringt: Den komfortabelsten Eindruck hinterlässt ausgerechnet der blatt-/luftgefederte FM 500 mit seinem tief montierten Fahrerhaus, wogegen bei den vollluftgefederten FH, egal ob 6×2 oder 4×2, die Vorderachse die Fahrbahnstöße am spürbarsten weitergibt. Bei der Kabinenfederung ist derweil der von Volvo favorisierte Mix von Schraubenfedern vorne und Luftfederung hinten angesagt.
Bei der Geräuschkulisse schneidet wenig überraschend der FH Aero Electric am besten ab. Obwohl die Volvo FH und FM erfahrungsgemäß zu den leisesten Diesel-Lkw am Markt zählen, machen sie in dieser Disziplin gegen den Elektro-Lkw keinen Stich.
Von Pilot Assist und Kameraspiegeln abgesehen, unterstrichen die Fahrten mit dem FH Aero Electric, dem FM 500 und dem FH Aero 460 antriebsseitig den Status Quo: Der 12,8 Liter große D13-Sechszylinder ist nach wie vor mit und ohne Turbocompound (TC) im Programm, wobei die TC-Varianten mit gekühlter Abgasrückführung (AGR) und sehr hohen Drehmomenten (2.400, 2.600, 2.700 oder 2.800 Nm in 420-, 460-, 480- oder 500-PS-Version) ihre Stärke vor allem auf der Langstrecke ausspielen. Den Nachweis sehr guter Fahrleistungswerte hat der Turbocompound auch bereits auf der Teststrecke abgeliefert, konkret in Form eines FH 500 I-Save im Jahr 2020. Der D13 mit ungekühlter AGR hat vorzugsweise im Nahverkehr und auf der Baustelle weiterhin seine Berechtigung.
Beim Elektro-FH bleibt es derweil beim gekoppelten Triebstrang mit drei E-Motoren, I-Shift-Getriebe und konventioneller Hinterachse. Zur bereits auf der IAA 2022 angekündigten E-Achse war auch fast anderthalb Jahre später nichts neues zu erfahren. Immerhin: Bei Instrumenten und Anzeigen ist jedweder provisorische Charakter aus dem Einführungsjahr 2021 passé, der FH Electric ist zu 100 Prozent auf dem Serienstand angekommen, insbesondere mit angepassten Trip-Daten zum Stromverbrauch.
Einen weiteren gemeinsamen Nenner bildet das Kamera-Monitor-System, das für FH Aero, FH (die bisherigen Kabinen ohne Aero-Haube bleiben im Programm) und FM gleichermaßen zur Wahl steht. „Wir sind nicht die ersten mit einem solchen System, wollen aber die Besten sein“: So lässt sich sinngemäß das Selbstverständnis von Volvo zur Einführung zusammenfassen.
Einen kleinen Wermutstropfen hat sich Volvo im Grunde selbst eingebrockt: Verglichen mit den schlanken Spiegelgehäusen, die an den A-Säulen vorbei für bessere Sichtverhältnisse als bei anderen „Spiegel-Lkw“ sorgen, tragen die 12- und 15-Zoll-Monitore links und rechts ziemlich dick auf. Dafür wirken die Bildschirme ausgesprochen farbecht, und Schärfe und Kontrast (vor allem auch bei wechselnden Lichtverhältnissen) sind einwandfrei. Von eingeblendeten Abstandslinien, Aufliegermitverfolgung in Kurven, Rangier-, Zoom-, Nacht- und Überwachungsmodus sind zahlreiche Funktionen geboten, und auch die Steuerung über das Türmodul sowie haptische Tasten am Monitor hinterlässt spontan einen guten Eindruck. Erfassen die Seitenradare links oder rechts Objekte im Nahbereich, erscheint im jeweiligen Monitor ein Warnsymbol, was auch beim Überholen nützlich ist: Verschwindet das Symbol, kann man gefahrlos wieder einscheren. Die im Türpanel aktivierbare Zoom-Funktion hat Volvo bislang exklusiv im Angebot, die Auflieger-Mitverfolgung ist für alle Längen bis hin zur schwedischen 34,5-Meter-Kombination ausgelegt und auch die beiden Rückfahrmodi mit 18- und 36-Grad-Winkel heftet sich Volvo als einzigartiges Feature ans Revers.
Von der Grundauslegung her liegt Volvo auf einer Linie mit Daimler Truck: Front- und Rampenspiegel bleiben dran. Aerodynamisch, so die Schweden und Schwaben in seltener Einigkeit, würde der erweiterte Ersatz kaum nennenswerte Vorteile bringen: Der Frontspiegel liegt sowieso innerhalb der Fahrzeugkontur und der fast waagerechte Rampenspiegel bietet dem Wind kaum Angriffsfläche. Eine Weiterentwicklung in Richtung kompletten Spiegelverzicht wollten die Volvo-Mannen auf Nachfrage aber nicht ausschließen. Installiert sind die drei Kameras in anklappbaren Armen, die links und rechts rund 35 Zentimeter rausragen. Warum drei? Auf der Beifahrerseite überwacht eine zweite Linse den Toten Winkel, wobei das Bild bei gesetztem Blinker im Sekundärdisplay erscheint.
Bis zu fünf Prozent Kraftstoff beziehungsweise Batteriekapazität soll der rundliche Aero-Vorbau einsparen. Mit dem neuen Design ist das Volvo-Logo nach unten gewandert und lässt im Gegenzug reichlich Beschriftungsfläche unter der Frontscheibe frei. Für den Frontaufstieg ist eine breite Klappstufe integriert, deren Doppelnutzung als Pausenbank Volvo mit eingelassenen Getränkehaltern unterstreicht. Abgesehen von den Kameramonitoren und weiteren USB-C-Anschlüssen (jetzt insgesamt sechs) bleibt bei der Innenreinrichtung derweil fast alles beim Alten. Einige Updates gibt es aber für Fleetsoftware, Infotainment und Soundsystem. Praktische Erfahrungen mit dem FH Aero dürften die ersten Kunden schon in naher Zukunft sammeln: Die Serienproduktion startet in der Woche nach Pfingsten.
Die Testwagen:
Volvo FH16 Aero 780 6×2; Fahrerhaus Globetrotter XL; ausgeladen auf rund 38 Tonnen
Motor: D17A780; 17,3 Liter Hubraum; 574 kW (780 PS); 3.800 Nm
Getriebe: Volvo I-Shift ATO 3812; 12-Gang-Overdrive
Volvo FH Aero Electric 4×2; Fahrerhaus Globetrotter; ausgeladen auf rund 35 Tonnen
Motor: 3 E-Motoren mit zusammen 490 kW; gekoppelter Triebstrang; Batterien 540 kWh
Getriebe: Volvo EPT 2412 (12-Gang-I-Shift mit den Hauptfahrgängen 7 bis 12)
Volvo FM500 4×2; Fahrerhaus Globetrotter; ausgeladen auf rund 36 Tonnen
Motor: D13K500; 12,8 Liter Hubraum; 368 kW (500 PS); 2.500 Nm
Getriebe: I-Shift AT 2612; 12-Gang
Volvo FH Aero 460 4×2; Fahrerhaus Globetrotter XL; ausgeladen auf rund 36 Tonnen
Motor: D13 I-Save 460; 12,8 Liter Hubraum; 338 kW (460 PS); 2.600 Nm
Getriebe: I-Shift AT 2612; 12-Gang
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