Experten-Test DAF XG+ 480: Großes Kaliber
Wenn DAF bei der XG-Reihe von komplett neuen Fahrzeugen spricht, ist das keine Übertreibung. Eine um 16 Zentimeter vorbauende Frontpartie und eine um 33 Zentimeter nach hinten versetzte Rückwand ergeben ein Großraumkonzept, das die erweiterten EU-Längenbestimmungen rund um Aerodynamik und Sicherheit ziemlich konsequent ausnutzt. In Produktion gingen die XG (Normaldach) und XG+ (Hochdach), ebenso wie der verjüngte XF, im Herbst 2021. Den ersten Testwagen rückte DAF im Sommer 2022 heraus: einen XG+ mit 483 PS aus dem 12,9 Liter großen Reihensechszylinder MX-13.
Besonders stolz ist DAF auf die in vielen Punkten optimierte Aerodynamik. Über sechs der insgesamt zehn Prozent Spritersparnis, die die Niederländer versprechen, sollen allein auf das Konto des geringeren Luftwiderstands gehen. Die Liste der Maßnahmen reicht vom keilförmigen Grundzuschnitt mit gewölbter Scheibe über Kunststoffeinsätze in fast allen Karosseriespalten, Verkleidungen in den Radläufen und verlängerten Seitenschürzen bis zur Unterbodenplatte. Weitere größere und kleinere Luftleitelemente finden sich allerorten, selbst im Motorraum. Aerodynamisch auch nicht zu verachten: Für eine Standklimaanlage müssen DAF-Kunden nicht mehr zur Aufdachanlage greifen, sondern können eine vollintegrierte Lösung mit elektrischem Kompressor ordern. Im Umkehrschluss bleibt die Dachluke frei, die sich mit Mückennetz, Verdunkelung und elektrischer Bedienung nahtlos ins gut gemachte Interieur einfügt.
Eine weitere Aerodynamik-Zutat: Auch DAF liefert nun Kameras statt Spiegel, lässt dem Kunden aber mehrere Alternativen. So ist es zum Beispiel möglich, wie beim Actros nur die Haupt- und Weitwinkelspiegel durch Kameras zu ersetzen, oder zusätzlich Front- und Bordsteinspiegel einzusparen. In diesem Fall, DAF „Corner View“ genannt, ist beifahrerseitig eine weitere Kamera unterhalb der Frontscheibe angebaut. Das modulare System wird relativ einfach dadurch möglich, dass für das Kamerabild über Front und Ecke hinweg ein zusätzlicher Monitor zum Einsatz kommt. Der sitzt dann, wie im Testwagen, über dem rechten Hauptmonitor. Vom Bauchgefühl her, mit den Systemen von Mercedes und MAN im Hinterkopf, erscheint das die bislang überzeugendste volldigitale Lösung: Die Verteilung auf zwei Monitore an der rechten A-Säule wirkt übersichtlicher als im MAN, und anders als am Actros stehen gar keine Spiegel mehr im Wind.
Wie bei MAN ist der rechte Hauptmonitor größer als der linke, verdeckt beim Blick dran vorbei aber trotzdem kaum mehr Fläche, als die A-Säule ohnehin schon. Funktionen wie die Aufliegerverfolgung bei Kurvenfahrt sowie Distanzlinien für das eigene Heck und darüber hinaus sind ebenfalls geboten. Aktive Warnsignale beim allzu knappen Überholen, wie etwa bei den Actros-Mirrorcams, ertönen aber nicht. Verwunderlich ist, dass sich die Monitore in vielen Fällen als nicht besonders farbecht erweisen: Da präsentiert sich ein überholender Lkw bei der Vorbeifahrt plötzlich in einem ganz anderen Grün, als das vorher im Monitor zu sehen war.
Mit der gestreckten Kabine ergibt sich für den XG+ ein gewaltiges Innenvolumen von rund 12,1 Kubikmetern. Zum Vergleich: Beim bisherigen XF Super Space Cab, immerhin eines der größten Fahrerhäuser im europäischen Wettbewerb, sind es über 1,5 Kubikmeter weniger. Der entscheidende Faktor ist die Länge: Von der Frontscheibe bis zur Kabinenrückwand sind es fast 30 Zentimeter mehr als zuvor. Abgesehen vom Raumangebot teilen sich den Profit vor allem die Sitzverstellung und die Bettenbreite. So ist es mit komplett nach oben vorne gerücktem Lenkrad und zurückgefahrenem Sitz nun möglich, selbst am Fahrerplatz ohne größere Verrenkungen zu stehen. Mehr noch: Optional lässt sich im XG+ nicht nur der Beifahrer-, sondern auch der Fahrersitz drehbar bestellen. Mit dem ausziehbaren Tisch in der Mittelkonsole, immerhin 43 mal 37 Zentimeter groß, ergibt sich damit eine veritable Sitzgruppe. In Griffweite liegen zudem eine offene Ablage auf der Armatur und eine praktische Schublade unter der Mittelkonsole. Hüben wie drüben sind im Testwagen Leder-Luxussitze installiert, wogegen die schlichte Beifahrer-Serienausführung mit hochklappbarer Sitzfläche aufwartet. Das dient dann auch der Sicht: Optional ist für die neuen schweren DAF eine unten verglaste Beifahrertür zu bekommen, wie man das sonst nur von Verteilerfahrzeugen kennt.
Unterhalb der geräumigen Schränke vorne (zusammen rund 320 Liter) ist an der Scheibe ein Rollo verbaut – das wird zwar manuell statt elektrisch bedient, ist aber allemal besser als simple Klappblenden. Zugelegt hat auch die Lenkradverstellung und die Instrumente präsentieren sich nun volldigital. Von Gimmicks wie einem schlüssellosen Start-Stopp-Knopf oder einer elektronischen Feststellbremse hält DAF derzeit aber noch nichts. O-Ton zur Vorstellung im Juni 2021: „Schlüssel sind nützlich, praktisch und günstig.“
Dank der gewachsenen Abmessungen ist die untere Matratze nun auf ganzer Länge satte 80 Zentimeter breit und ruht auf einem Lattenrost. Oben liegt die Matratze auf einem Holzbrett, aber mit 70 mal 200 Zentimeter Fläche hat DAF nicht gegeizt. Zudem rastet die Liege in beliebigen Winkeln ein, sei es zum Bettzeug-Lüften oder für Gepäck, und klappt dann beim Rausschieben über den oberen Totpunkt nach unten. Apropos Gepäck: Eine Schrankwand ist (noch) nicht im Angebot. Schade auch, dass DAF dem Bedienteil am unteren Bett keine Kabelfernbedienung spendiert: Das Schalterfeld ist fest an der fahrerseitigen Rückwand angebracht. Neben üblichen Funktionen wie Licht, Klimaanlage, Radio, Fensterheber und Dachluke lässt sich ein Überwachungsmodus einschalten, wie man das von den Mirrorcams am Actros und dem Optiview-System von MAN kennt.
Beim Grundkonzept setzt DAF weiterhin auf einen dreistufigen Einstieg mit Motortunnel, der mit fünf Zentimeter Höhe aber kaum ins Gewicht fällt. Die Stehhöhe beträgt dennoch durchgängig über zwei Meter. Außen öffnen sich links und rechts große Staufächer mit je rund 250 Liter Volumen, die nach oben öffnende Stauraumklappe kollidiert fahrerseitig aber mit dem vorklappenden Seitenspoiler. Dass DAF unverändert eine Kippelektrik für verzichtbar hält, kann man schon eher als Marotte abhaken.
Der MX-13-Motor wurde aber ebenfalls überarbeitet. Erneuert hat DAF unter anderem Einspritzung, Turbolader und Zylinderkopf, die Leistungsstufen sind unverändert: Der 480er ist die mittlere Version, die Alternativen lauten 428 oder 530 PS. Zwischendrin sortiert sich die 450-PS-Version des 10,8 Liter großen MX-11 ein, die für den XG+ eine weitere Option bildet. Geblieben ist es bei der Philosophie der Drehmomentüberhöhung, was beim getesteten 480er maximal 2.500 Nm im zwölften Gang und 2.350 Nm in den Gängen eins bis elf bedeutet.
Dass es für mehr Effizienz nicht unbedingt Hightech braucht, beweist DAF an anderen Stellen. Der immerhin 85 Liter fassende AdBlue-Tank schlängelt sich zum Beispiel platzsparend von der Rückwand über den Radlauf hinweg und spart dadurch Bauraum am Rahmen. Ebenfalls clever: Der Abgaskanal verläuft jetzt über statt unter dem Chassis in die SCR-Anlage. Die heißen Abgase legen somit einen kürzeren Weg zurück, was Temperaturverluste verringert. Von reduzierten Verlustleistungen spricht DAF auch bei den neuen Ein- und Zweizylinder-Luftpressern, Ölpumpen und Generatoren. Der Kompressions-Motorbremse (MX Engine Brake) bescheinigt D A F mehr Kraft bei niedrigen Drehzahlen, die Spitzenleistung blieb indes gleich. Auch der Standard-Triebstrang für den Fernverkehr präsentiert sich mit bekannten Eckdaten: Zum ZF Traxon-Getriebe ist mit 315/70er Reifen eine 2,21 übersetzte Hinterachse erste Wahl.
Optimierte Aerodynamik, überarbeiteter Motor und lange Achse: Die Rechnung geht auf. Mit durchschnittlich 30,6 Liter Diesel liegt der XG+ 480 auf demselben hervorragenden Niveau wie ein Scania 500 S mit Twin-SCR-Motor. Dabei ist der Niederländer zwar deutlich langsamer als der Schwede (82,6 zu 84,4 km/h), genehmigt sich aber fast zwei Liter weniger AdBlue (1,65 statt 3,58 l/100 km). Je nachdem, wie man Fahrleistung und AdBlue-Verbrauch bewertet, liegt also der eine oder andere aktuell an der Spitze des Wettbewerbs. Unterm Strich kann man wohl von einem Patt sprechen. Überzeugend ist der DAF insbesondere mit sehr guten Teillastwerten, was die gelungene Aerodynamik unterstreicht.
Die Messfahrt lief mit üblichen + /- 5 km/h als Über- und Unterschwinger im Eco-Modus ab. Genauer gesagt in Eco Fuel, denn grundsätzlich kann sich der Kunde zwischen zwei Modi entscheiden: Eco Fuel oder Eco Power. Der Kickdown funktioniert auch in Eco Fuel, von einem automatischen Angasen vorm Berg aber keine Spur. Ganz im Gegenteil: Aus einer Rollphase heraus gibt der Rechner meist erst bei 83 bis 84 km/h wieder Gas, und aus dem Motorbremsbetrieb kommend bleibt auch nur selten der 11. Gang drin. Aber: Der Erfolg gibt den Programmierern recht – sofern man eben Verbrauch klar über Geschwindigkeit stellt. Immerhin ist der Getrieberechner nicht mehr so gnadenlos auf niedrige Drehzahlen getrimmt, wie das bei früher getesteten XF oft der Fall war. Vielmehr wird im Berg relativ zügig auf rund 1.300 Umdrehungen Anschlussdrehzahl geschaltet und zur Kuppe hin auch mal bis fast 1.600 Touren ausgedreht.
Sinnvoll: Der Tempomat bleibt bei Beibremsungen bis rund 5 km/h unter Setzgeschwindigkeit drin, bei stärkerer Bremsung fliegt er raus, und die Distanz zum Vordermann und dessen Tempo wird jetzt auch bei ausgeschaltetem ACC angezeigt. Am Ende von Gefällstrecken lässt die Elektronik bis zu 30 Sekunden lang 3 km/h Übergeschwindigkeit zu, kurzzeitig also 93 statt 90 km/h. So verfahren inzwischen zwar viele Hersteller, es macht die halblegale Angelegenheit aber nicht wirklich besser. Um die Fuhre einzubremsen, sind auf der Messrunde ohnehin häufig die Scheibenbremsen gefragt: Beim ohne Retarder ausgestatteten Testwagen kommt die MX-Motorbremse schnell an ihre Grenzen, trotz automatischer Rückschaltungen in den 10. Gang, wo bei 1.800 Touren rund 445 Brems-PS anliegen – also nicht die Welt. Anders als etwa Mercedes, Scania oder Volvo scheint die Motorbremse auch nicht sonderlich an den vorausschauenden Tempomaten angebunden. Statt vor langen Gefällen weit unter Tempomatgeschwindigkeit runterzubremsen, um zum Ende hin über Reserven zu verfügen, geht der X G + tapfer jede Talfahrt mit 90 Sachen an. Ohne Fuß am Bremspedal läuft es somit in den wenigsten Fällen ab.
Ein ausgesprochener Leichtbau ist mit der riesigen Kabine des XG + nicht zu erwarten, knapp 7,5 Tonnen gehen für den Testwagen im Wettbewerbsumfeld aber noch in Ordnung. Mit Blick auf die gehobene Ausstattung, aber ohne Retarder, fällt das Leergewicht in die Kategorie „unteres Mittelfeld“. Wenn die Nutzlast im Vordergrund steht, etwa im Tank- und Silobereich, dürften die meisten DAF-Kunden aber generell zu gewichtsoptimierten Varianten des neu aufgelegten XF greifen. Ohnehin haben die Niederländer für alle Fälle vorgesorgt: Die neue Plattform von XF, XG und XG+ soll für E-Antriebe (batterieelektrisch oder mit Brennstoffzelle), Hybride und Wasserstoffverbrenner künftig gleichermaßen die Basis bilden.
Die standardmäßige Federung, Vier-Balg-Luft hinten und Zwei-Blatt-Parabel vorne, ist ziemlich straff ausgelegt, das Fahrverhalten insgesamt sehr gut: Mit dem neuen Normalmaß von vier Metern Radstand beim neu entwickelten Chassis läuft der XG+ wie auf Schienen, Kabinenlagerung und Innengeräusche sind okay und Vibrationen gibt es fast keine. Das neue DAF-Flaggschiff zieht sehr laufruhig seine Bahn, in der Ebene wie auch am Berg, verbunden mit dem kleinen Manko: Eine elektrisch unterstützte Hydrolenkung mit der Option auf eine aktive Spurrückführung steht bei den Niederländern noch aus. Der Kundennutzen sei gering, hieß es zur Vorstellung, eine spätere Umstellung direkt auf eine vollelektrische Lösung effizienter. Abgesehen von den Kameras bleibt das Thema Sicherheit also im Wesentlichen auf dem Stand der vorangegangenen XF-Generation – aber was nicht ist, kann ja noch werden.
Messwerte und Daten |
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Dieselverbrauch | l/100 km |
Gesamte Strecke: | 30,6 |
Schwere Teilstücke: | 34,6 |
Leichte Teilstücke: | 26,5 |
Volllast (5 % Steigung): | 89,6 |
Teillast (bei 85 km/h): | k.A. (Baustellen) |
Geschwindigkeit | km/h |
Gesamte Strecke: | 82,6 |
Schwere Teilstücke: | 81,3 |
Leichte Teilstücke: | 83,9 |
Volllast (5 % Steigung): | 66,7 |
AdBlue (l/100 km): | 1,65 (5,40 % vom Diesel) |
steigungsbedingte Schaltungen: | 33 |
Innengeräusch Ebene (85 km/h): | 64,5 dB(A) |
Innengeräusch max. (Steigung): | 66,8 dB(A) |
Fahrgestell/Gewicht | |
Bereifung: | 315/70 R 22,5 |
Reserverad j/n: | n |
Tankgröße Diesel: | 430 Liter |
Tankgroße AdBlue: | 85 Liter |
Federung: | Zwei-Blatt-Parabel/Vier-Balg-Luft |
Rahmenstärke: | 6,0 mm |
Radstand: | 4.000 mm |
Retarder j/n: | n |
Leergewicht vollgetankt, mit Fahrer: | 7.565 kg |
Testgewicht: | 39.440 kg |
Motor | |
Reihensechszylinder (Paccar MX-13) mit variablem Turbolader (VTG) und Ladeluftkühlung, einteiliger Zylinderkopf, vier Ventile pro Zylinder, Common-Rail-Einspritzung | |
Abgasnorm: | Euro 6e |
SCR j/n: | j |
AGR j/n: | j |
Bohrung: | 130 mm |
Hub: | 162 mm |
Hubraum: | 12.902 ccm |
Leistung: | 355 kW / 483 PS bei 1.600/min |
Max. Drehmoment: | 2.350 Nm bei 900 bis 1.400/min; 2.500 Nm bei 900 bis 1.125/min im 12. Gang |
Motorbremse: | 370 kW bei 2100/min |
Getriebe/Achse | |
ZF Traxon 12 TX 2210 DD, automatisiertes Zwölfgang-Getriebe, Direktgangausführung | |
Übersetzung HA: | 2,21 |
U/min bei 85 km/h (größter Gang): | 1.015 |
Fahrerhaus | |
DAF XG+, Vier-Punkt-Luftfederung | |
Außenbreite/-länge: | 2.500/2.690 mm |
Einstiegsstufen: | 3 |
Einstiegshöhe: | 1.560 mm |
Scheibe/Rückwand: | 2.410 mm |
Innenhöhe vor Sitz: | 2.075 mm |
Innenhöhe Mitte: | 2.130 mm |
Höhe Motortunnel: | 50 mm |
Liege unten (B x L): | 800 x 2.150 mm |
Liege oben (B x L): | 690 x 1.990 mm |



