Experten-Test Actros 1851: Modern, sicher und sehr sparsam
Der amtierende „Truck of the Year“ feierte kürzlich einjähriges Jubiläum: Im Mai 2019 lief die Serienfertigung des neuen Actros an. Mittlerweile begegnet man den „spiegellosen“ Mercedes immer häufiger und der Mercedes- Fahrversuch stellt die ersten Fahrzeuge für Verbrauchsmessfahrten bereit. Den Auftakt macht ein 1851 Streamspace aus der Rubrik „gehobener Flottenstandard“: Nur das drittgrößte Fahrerhaus (nach Big- und Gigaspace), aber mit ebenem Boden und rund 1,90 Meter Stehhöhe. Neben Abstrichen bei Raum- und Stauvolumen müssen die Fahrer in der Regel auch auf eine äußere Sonnenblende verzichten – die wäre beim aerodynamisch geformten Dach kontraproduktiv.
Unter der windschlüpfrigen Hütte arbeitet der 12,8-Liter-Motor OM 471 mit 510 PS und 2.500 Nm Drehmoment. Soll es mehr sein, gibt es noch eine 530-PS-Version, darüber beginnt das Reich des bis zu 625 PS starken OM 473. Mit Blick auf Fahrerhausgröße und Ausstattung liegt das Leergewicht des Testwagens mit rund 7,3 Tonnen sehr günstig. Dabei hat Mercedes den neuen Actros gar nicht sonderlich abgespeckt, viel mehr als eine modifizierte und rund 25 Kilogramm leichtere Abgasbox gibt es nicht zu verzeichnen. Auch der OM 471 stammt weiter aus der im Jahr 2015 eingeführten zweiten Generation. Neben konstruktiven Maßnahmen (neue Einspritzung, neuer Turbolader) wurde seinerzeit vor allem die AGR-Rate verringert und dafür der AdBlue-Anteil erhöht.
Das Rezept geht offenbar auf: Durchschnittlich 33,3 Liter Diesel und 1,5 Liter Adblue sind auf der schweren Messstrecke hervorragende Werte. Dabei zieht der Neue zusätzlichen Vorteil aus den windschlüpfrigen Mirrorcams, wie sich insbesondere in einem niedrigen Teillastverbrauch zeigt. Laut Mercedes sollen allein die Mirrorcams bis zu 1,5 Prozent Kraftstoff sparen, hinzu kommt weiterer Feinschliff in Form von neuen, konkav geformten Endkanten. Die neue Standard-Achsübersetzung von 2,412 zu Eins (zuvor 2,533), die das Drehzahlniveau auf der Autobahn um rund 55 Touren senkt, trägt ein Übriges bei.
Angesichts von 2.500 Nm ist die lange Achse beim 1851 kräftemäßig auch kein Problem, allein zur dreistufigen Dekompressions-Motorbremse, die ihre maximal 558 Brems-PS bei 2.300 Umdrehungen erreicht, will die Übersetzung nicht so recht passen: Bei 90 km/h liegen im 10. Gang nur knapp 1.900 Touren und somit rund 400 Brems-PS an, wogegen sich der 9. Gang mit theoretisch über 2.400 Umdrehungen an gleicher Stelle verbietet. Beim ohne sonst üblichen Voith-Wasserretarder ausgestatteten Testwagen werden somit deutlich mehr Beibremsungen als gewohnt fällig. Und das, obwohl der Getrieberechner um die potentielle Schwäche weiß und eingangs langer Gefälle die Geschwindigkeit teilweise schon weit unter Zieltempo einregelt.
Abgesehen davon geht es mit gesetztem Tempomat, der sich in 0,5-km/h-Schritten exakt justieren lässt, sehr komfortabel voran. Gepaart mit zügigen Schaltungen des Powershift-Getriebes und einem moderaten Unterschwinger von minus 4 km/h über Kuppen hinweg stimmt auch das Tempo. Der Wechsel der Fahrprogramme Automatik, Economy und Economy+ steht jederzeit frei und es sind immer auch manuelle Eingriffe möglich. Neben der Schaltstrategie liegen die Unterschiede vor allem in der setzbaren Höchstgeschwindigkeit (89, 85 oder 82 km/h), dem Angasen vor Steigungen (nur in „A“) und dem verfügbaren Kickdown (nicht in „E+“). Die Testfahrt lief überwiegend in Economy ab, verbunden mit einer Schwungspitze von zwei km/h im Auslauf von Gefällen (also kurzzeitig bis 92 km/h; einstellbar sind bis zu plus 4 km/h).
Bleiben als Verbesserungsvorschläge: Ecoroll mit und ohne Tempomat ist ja okay, aber 35 km/h als Untergrenze sind im Stadtverkehr zu gering. Und als Gedächtnisstütze für das gesetzte Tempo sollte statt eines ungenauen Pfeils im Tacho wieder eine Klartextanzeige ins Display. Jenes Display, das im Actros die klassische Instrumententafel ersetzt, ist mit zehn oder zwölf Zoll zu haben. Die größere Version bietet diverse Anzeigen, wobei sich im Test die „Classic“-Variante mit rundem Drehzahlmesser rechts und Tacho links als Favorit herausstellte – aber die Geschmäcker sind bekanntlich verschieden.
Die Mirrorcams wurden seit der Vorstellung mehrfach beleuchtet. Kritische Stimmen, vor allem von (weitsichtigen) Brillenträgern, dürften sich inzwischen herumgesprochen haben, im Selbstversuch ist die Eingewöhnung aber keine große Sache. Insbesondere weiß man Vorteile wie die Bildnachführung in Kurven und die Distanzlinien beim Überholen schnell zu schätzen. Die viel bessere Sicht an den A-Säulen vorbei kann zudem niemand ernsthaft bestreiten. Weitere Vorteile bietet die Mirrorcam zusammen mit dem radargestützten Abbiegeassistenten: Das System warnt optisch und akustisch nicht nur vor stehenden oder beweglichen Objekten (zum Beispiel parkende Autos, Fußgänger, Radfahrer), sondern dient auch als Spurwechsel-Assistent auf der Autobahn
Die Möglichkeit, mit den Mirrorcams selbst bei zugezogenen Vorhängen den Außenbereich zu überwachen, ist ebenfalls ein echtes Plus. Ein Punkt, den mancher Fahrer vielleicht noch nicht entdeckt hat: Die Helligkeit der Bildschirme lässt sich über das rechte Touchdisplay oder das Multifunktionslenkrad anpassen, auch mit unterschiedlichen Einstellungen für rechts und links.
Das 2,50 Meter breite Fahrerhaus mit vier Stufen ist der größte Vertreter der Streamspace-Familie, die wie zuvor auch schmale und tief montierte Varianten umfasst (2,30 Meter breit, 17 oder 32 Zentimeter hoher Motortunnel). Den Wohnraum prägt eine neue LED-Beleuchtung, die wählbaren Einrichtungen bleiben aber erhalten, inklusive „Solostar“ mit Sessel an der Rückwand, verschiedene Betten oder zusätzlicher Stauraum. Letzteren gestaltet Mercedes pragmatisch: Statt einer Schrankwand baumelt ein großes Gepäcknetz von der Decke. Auch an anderer Stelle gehen die Wörther praktisch vor – so ist die Konsole unterm Fahrersitz mit nur noch acht statt zwölf Zentimetern Höhe zu haben. Hört sich unspektakulär an, schafft aber für kurzbeinige Zeitgenossen wertvollen Freiraum bei der Sitzverstellung.
Eine weitere spürbare Verbesserung: Vom Stuckern aus Richtung Vorderachse, mit ständigem Einnicken der Kabine verbunden, spürt man so gut wie nichts mehr. Verantwortlich dafür sind neue Längsdämpfer, die bei den luftgefederten Fahrerhäusern mit ebenem Boden jetzt zusätzlich verbaut werden. Im Verbund mit der Zwei-Blatt-Parabelfederung vorne und der Vier- Balg-Luftfederung an der Hinterachse ist der Fahrkomfort einwandfrei – wenn auch die Innengeräusche nur auf durchschnittlichem Niveau liegen. Einige Sparmaßnahmen sind ebenfalls zu verzeichnen. So gibt es für den Fahrer gar keinen Ölstab mehr, weder vorne noch am Motor, zur Kippelektrik wurde die Fernbedienung gestrichen und die vorderen Staufächer müssen sich eine einzige lange Klappe teilen – in früheren Streamspace-Häusern hatte jedes Fach einen eigenen Deckel.
Nicht mehr als nötig tut Mercedes nach wie vor beim hinteren Aufstieg mit schmalen Tritten in der Seitenverkleidung und beim Frontaufstieg. Verwunderlich ist auch, dass keine LED-Scheinwerfer zu haben sind. Hier markieren weiter Halogen- oder Bi-Xenon-Scheinwerfer den Stand der Dinge. Nicht gerade auf Anhieb geht das teilautomatisierte Fahren mit dem Active Drive Assist in Fleisch und Blut über. Vor allem das aktive Spurhalten, basierend auf Frontkamera und elektrisch unterstützter Servotwin-Lenkung, ist ungewohnt: Bei gepacktem Lenkrad kämpft man ständig gegen Rückstellkräfte an und bei lascher Handauflage mahnt umgehend ein Warnhinweis zum festen Griff. Wahlweise kann man den Assistenten aber auch abschalten, wobei die wichtigsten Sicherheitssysteme wie Notbremsassistent, Spurrückführung, Fußgänger- und Radfahrererkennung dennoch aktiv bleiben. Anders gesagt: Alles kann, nichts muss und wer´s ganz traditionell mag, kann den Actros auch noch mit Spiegeln ordern.
Messwerte und Daten | |
Dieselverbrauch | l/100 km |
Gesamte Strecke: | 33,3 |
Schwere Teilstücke: | 38,0 |
Leichte Teilstücke: | 28,7 |
Volllast (5 % Steigung): | 91,2 |
Teillast (bei 85 km/h): | 20,9 |
Geschwindigkeit | km/h |
Gesamte Strecke: | 83,8 |
Schwere Teilstücke: | 82,7 |
Leichte Teilstücke: | 85,0 |
Volllast (5 % Steigung): | 71,9 |
AdBlue (l/100 km): | 1,51 (4,51 % vom Diesel) |
steigungsbedingte Schaltungen: | 20 |
Innengeräusch Ebene (85 km/h): | 64,5 dB(A) |
Innengeräusch max. (Steigung): | 67,7 dB(A) |
Fahrgestell/Gewicht | |
Bereifung vorn/hinten: | 385/55 R 22,5 / 315/70 R 22,5 |
Reserverad j/n: | n |
Tankgröße Diesel: | 390 Liter |
Tankgroße AdBlue: | 60 Liter |
Federung: | Zwei-Blatt-Parabel/Vier-Balg-Luft |
Rahmenstärke: | k.A. |
Radstand: | 3.700 mm |
Retarder j/n: | n |
Leergewicht vollgetankt, mit Fahrer: | 7.370 kg |
Testgewicht: | 39.200 kg |
Motor | |
Reihensechszylinder (OM 471 LA), Turbolader mit asymmetrischem Turbinengehäuse und Ladeluftkühlung, einteiliger Zylinderkopf, vier Ventile pro Zylinder, Common-Rail-Einspritzung | |
Abgasnorm: | Euro 6d |
SCR j/n: | j |
AGR j/n: | j |
Bohrung: | 132 mm |
Hub: | 156 mm |
Hubraum: | 12.809 ccm |
Leistung: | 375 kW (510 PS) bei 1.600/min |
Max. Drehmoment: | 2.500 Nm bei 1.100/min |
Motorbremse: | 410 kW bei 2.300/min |
Getriebe/Achse | |
Mercedes G281-12; automatisiertes Zwölfgang-Getriebe, Direktgangausführung | |
Übersetzung HA: | 2,412 |
U/min bei 85 km/h (größter Gang): | 1.108 |
Fahrerhaus | |
Actros Stream Space (2,5 m), Vier-Punkt-Luftfederung | |
Außenbreite/-länge: | 2.482/2.300 mm |
Einstiegsstufen: | 4 |
Einstiegshöhe: | 1.640 mm |
Scheibe/Rückwand: | 2.115 mm |
Innenhöhe vor Sitz: | 1.840 mm |
Innenhöhe Mitte: | 1.900 mm |
Höhe Motortunnel: | 0 |
Liege unten (B x L): | 750 x 2.150 mm |
Liege oben (B x L): | – |
