Experten-Test Actros L 1853: Gut gereifter Jahrgang
Wenn beim Mercedes Actros das Thema Fernverkehr heißt, dann ist der 12,8-Liter-Motor OM 471 der klare Stückzahlträger. Das Angebot umfasst fünf Varianten von 421 bis 530 PS, mit einigen Überschneidungen nach oben und unten: Der 15,6 Liter große OM 473 startet bei 517 PS, der 10,7-Liter-Motor OM 470 bringt es auf bis zu 455 PS. Wer sich schon immer über die Lücke in den Typenbezeichnungen gewundert hat: Es gibt auch einen OM 472 alias Detroit Diesel DD15, der mit 14,8 Liter Hubraum in Nordamerika zuhause ist.
Für einen weiteren Actros-Bestseller steht die 2,50 Meter breite Streamspace: Nominell die Nummer Drei hinter Big- und Gigaspace, aber mit strömungsgünstigem Hochdach das aerodynamischste der Mercedes-Großraumfahrerhäuser. Zum Test treten Streamspace und 530-PS-Motor (aus der 2. Generation des OM 471) als „Oberklasse-Flotten-Lkw“ in der Version Actros L an. Dabei steht das „L“ für die jüngste, seit November 2021 gebaute Variante. Charakteristisch ist ein Bündel an Feinarbeiten, die eine bessere Kabinen-Schalldämmung ebenso umfasst wie optionale, neu designte LED-Scheinwerfer. Weitere Zutaten waren bereits zuvor in die Produktion eingeflossen. So zum Beispiel der von zwölf auf acht Zentimeter abgesenkte Sitzkasten, der mehr Spielraum für die Sitzverstellung ganz nach unten lässt.
Spürbare Wirkung entfalten auch die zusätzlichen Längsdämpfer, die an den hohen, luftgefederten Fahrerhäusern die Nickbewegungen reduzieren. Vom Fahrkomfort her kann der Testwagen, vorne zudem mit Zwei-Blatt-Federn und 385/55er Reifen ausgestattet, damit fast vollauf überzeugen. Ein kleines Manko geht auf das Konto der elektrisch unterstützten Servotwin-Lenkung mit aktiver Spurrückführung, deren ständiges Gegenmoment beim Fahren mit Active Drive Assist (ADA) ziemlich deutlich in den Armen ankommt. Vergleichbare Systeme der Wettbewerber treten in dieser Disziplin inzwischen merklich dezenter auf.
Für die 3. Generation des OM471, die schon im Oktober mit unveränderten Leistungsstufen in Produktion gehen soll, verspricht Daimler etwa drei bis vier Prozent weniger Verbrauch, genauer gesagt beim Diesel: Zugunsten einer effizienteren Verbrennung lassen die Entwickler die Stickoxid-Rohemissionen leicht ansteigen, um sie dann mit höherem AdBlue-Einsatz im Nachgang zu neutralisieren. Zusammen mit den neuen Motoren sollen ebenfalls überarbeitete Powershift-Getriebe schnellere Gangwechsel und eine präzisere Gangwahl ermöglichen. Bei einer ersten Probefahrt mit dem neuen Triebstrang, rund drei Wochen nach dem Test des 1853, waren insbesondere in Kreisverkehren tatsächlich flüssigere Schaltvorgänge als bislang zu vermerken.
Doch zurück zum Hier und Jetzt. Dass die Kabine nun besser gedämmt ist, bestätigt sich auf der Testfahrt: Der Schallpegel liegt bei einer Marschdrehzahl von rund 1.100 Umdrehungen deutlich niedriger als zuvor. Ein übermäßiges Zusatzgewicht verursachen die Feinarbeiten offenbar nicht: Ausstattungsbereinigt wiegt die „Streamspace L“ keine zehn Kilogramm mehr als das Pendant eines Ende 2019 getesteten Actros 1851 – womit sich das gesamte Fahrzeug immer noch im guten Mittelfeld der Konkurrenz einsortiert. Wie seinerzeit hat Daimler am Retarder gespart, als Dauerbremse muss es die High Perfomance Engine Brake richten. Mit 558 Brems-PS bei 2.300 Touren ist das Teil zwar von kräftiger Natur, mit der gewählten Achse aber praktisch selten maximal nutzbar: Auf Autobahn und Landstraße würden der 9. und 8. Gang bei 90 beziehungsweise 70 km/h weit in den roten Bereich führen, weshalb bergab zumeist nur knapp 1.900 Touren im 10. oder 9. Gang anliegen. Als Gegenmaßnahme bremst der vorausschauende PPC-Tempomat (Predictive Powertrain Control) vor langen Gefällstrecken deutlich weiter runter, als das die eingestellten Schwungfenster vorsehen. Das klappt zwar zielsicher, um die ein oder andere Beibremsung kommt man zwecks sauberer Fahrerkarte trotzdem nicht herum.
Ein Überschwung am Ende des Gefälles ist aber gewollt: Die „Senkenschwungspitze“ lässt sich im Tempomat einstellen, typisch sind (wie im Test) rund zwei km/h – also maximal 92 statt 90 km/h. Sehr sympathisch: Von einem Wechselspiel aus Gasgeben und Rollenlassen in der Ebene und minimalen Gefällen, mittlerweile von MAN, Scania, Renault und Volvo praktiziert, hält Daimler nichts: Gemessen am Nervigkeitsfaktor ist der Spareffekt nach Ansicht der Wörther sehr gering. Eine besondere Stärke des Mercedes PPC zeigt sich auf der Landstraße, wo das System vor engen Kurven das Tempo automatisch anpasst. Dabei lassen sich je nach Ladung, so ungefähr von Flachstahl bis Fleischhang, gewisse Toleranzen vorgeben. Sobald man den Bogen mit den Einstellungen raus hat, ist das eine feine Sache. Überhaupt ist Mercedes sicherheitstechnisch Vorreiter, bis hin zum teilautonomen Fahren mit dem Active Drive Assist. Zudem kann die neueste Version des optionalen Abbiege-Assistenten nun eine Vollbremsung einleiten, bevor es für Radfahrer oder Fußgänger zum Äußersten kommt.
Gearbeitet hat Daimler auch an den Mirrorcams. Die Kamera-Ausleger sind jetzt zehn Zentimeter kürzer, das Fahrzeug insgesamt also 20 Zentimeter schmaler. Die Sicht in den Monitoren wurde etwas „spiegelähnlicher“ ausgelegt, etwa mit Blick auf die Endkanten zur leichteren Orientierung beim Aufsatteln. Als weitere Maßnahmen nennt Daimler Optimierungen bei Kontrast, Helligkeit und Farbsättigung, was sich an einigen Stellen der sonnigen Testrunde bestätigt; beispielsweise mit dem einwandfrei erkennbaren Blaulicht eines Rettungswagens oder im scharfen Wechselspiel von Licht und Schatten auf der waldgesäumten Handlingrunde. Unverändert folgt Daimler der Devise „keep it simple“: Ein kompletter Spiegelersatz ist nicht geplant. Beim Blick nach rechts, wo Front- und Rampenspiegel den Monitor flankieren und die Augen schnell alles Wesentliche erfassen, scheint das intuitiv die richtige Entscheidung. Aerodynamisch, so die Erfahrung von Daimler, würde der Verzicht auf die beiden Spiegel ohnehin wenig bringen. In der jetzigen Fassung sind die Mirrorcams gegenüber der traditionellen „Vollverspiegelung“ für etwa 1,5 Prozent weniger Verbrauch gut.
Bevorzugtes Fahrprogramm ist Economy, das für eine ausgewogene Mischung aus Fahrleistungen und Verbrauch steht. Am Berg wird kaum Tempo verschenkt (die Drehzahl fällt kaum je unter 1.050 Umdrehungen), allerdings ist der Tempomat in Economy auf 85 km/h begrenzt. Das entspricht zwar exakt der Testvorgabe, läuft aber beim nicht optimal abgerollten Testwagen eher auf „echte“ 84 km/h hinaus. In der Endabrechnung führt das zu leicht unterdurchschnittlichen 83,2 km/h, gepaart immerhin mit einem sehr guten Verbrauch von 32,9 Liter Diesel und nur knapp 1,4 Liter AdBlue – in der Klasse über 500 PS ist dem Actros 1853 damit ein Platz im Vorderfeld sicher. Zum cleveren PPC-Tempomaten addieren sich als weitere Spritspar-Elemente eine justierbare Jalousie vorm Kühler sowie regelbare Aggregate wie Wasserpumpe, Luftpresser, Lenkhelfpumpe und Generator. Für einen möglichst niedrigen Energieverbrauch in Pausen sorgen die integrierte Standklimaanlage beziehungsweise eine Standheizung mit Restwärmepumpe.
Nicht zuletzt verleiht der Actros L dem üppigen Gesamtprogramm mehr Struktur. Denn mit den 2,30 Meter breiten Kabinen, den abgespeckten Actros F (2,50 Meter breit, aber mit Motortunnel) und den Antos-Häusern für den Verteilerverkehr, die mittlerweile ebenfalls unter Actros-Flagge segeln, ergeben sich 19 Varianten. Dem Actros L sind nun aber die breiten Stream-, Big- und Gigaspace mit ebenem Boden vorbehalten. Eine äußere Sonnenblende wird leider nur bei Big- und Gigaspace empfohlen, bei der Streamspace bleibt das Teil strömungstechnisch besser ab. Eine einheitliche Option bildet die Solostar-Einrichtung mit Sessel und großem Tisch, im Gegenzug will Daimler von einem drehbaren Beifahrersitznichts wissen. Der Testwagen setzt derweil auf ein eigenwilliges Alleinfahrer-Konzept: Zum Luxus-Beifahrersitz gibt es ein einzelnes Bett und ein Gepäcknetz an der Decke.
Das Multimedia-Cockpit ist mittlerweile ein vertrauter Anblick, die Fülle der Funktionen beeindruckt nach wie vor. Unverändert gut ist auch die Lenkradverstellung mit Fußschalter, die maximale Steilstellung im Wettbewerbsvergleich aber nur noch mittelprächtig. In jüngerer Vergangenheit wurde leider die Fernbedienung für die Kippelektrik gestrichen und die Schränke vorne müssen sich eine einzige lange Klappe teilen. Derlei Sparmaßnahmen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich der Actros in der Version „L“ als insgesamt gut gereifter Jahrgang präsentiert.
Messwerte und Daten | |
Dieselverbrauch | l/100 km |
Gesamte Strecke: | 32,9 |
Schwere Teilstücke: | 37,1 |
Leichte Teilstücke: | 28,8 |
Volllast (5 % Steigung): | k.A. (Baustelle) |
Teillast (bei 85 km/h): | k.A. (Baustelle) |
Geschwindigkeit | km/h |
Gesamte Strecke: | 83,2 |
Schwere Teilstücke: | 82,3 |
Leichte Teilstücke: | 84,0 |
Volllast (5 % Steigung): | k.A. (Baustelle) |
AdBlue (l/100 km): | 1,38 (4,19 % vom Diesel) |
steigungsbedingte Schaltungen: | 18 |
Innengeräusch Ebene (85 km/h): | 63,3 dB(A) |
Innengeräusch max. (Steigung): | 68,2 dB(A) |
Fahrgestell/Gewicht | |
Bereifung vorn/hinten: | 385/55 R 22,5 / 315/70 R 22,5 |
Reserverad j/n: | n |
Tankgröße Diesel: | 390 Liter |
Tankgroße AdBlue: | 60 Liter |
Federung: | Zwei-Blatt-Parabel/Vier-Balg-Luft |
Rahmenstärke: | k.A. |
Radstand: | 3.700 mm |
Retarder j/n: | n |
Leergewicht vollgetankt, mit Fahrer: | 7.455 kg |
Testgewicht: | 39.330 kg |
Motor | |
Reihensechszylinder (OM 471 LA), Turbolader mit asymmetrischem Turbinengehäuse und Ladeluftkühlung, einteiliger Zylinderkopf, vier Ventile pro Zylinder, Common-Rail-Einspritzung | |
Abgasnorm: | Euro 6e |
SCR j/n: | j |
AGR j/n: | j |
Bohrung: | 132 mm |
Hub: | 156 mm |
Hubraum: | 12.809 ccm |
Leistung: | 390 kW (530 PS) bei 1.600/min |
Max. Drehmoment: | 2.600 Nm bei 1.100/min |
Motorbremse: | 410 kW bei 2.300/min |
Getriebe/Achse | |
Mercedes G281-12; automatisiertes Zwölfgang-Getriebe, Direktgangausführung | |
Übersetzung HA: | 2,412 |
U/min bei 85 km/h (größter Gang): | 1.108 |
Fahrerhaus | |
Actros Stream Space (2,5 m), Vier-Punkt-Luftfederung | |
Außenbreite/-länge: | 2.482/2.300 mm |
Einstiegsstufen: | 4 |
Einstiegshöhe: | 1.640 mm |
Scheibe/Rückwand: | 2.115 mm |
Innenhöhe vor Sitz: | 1.840 mm |
Innenhöhe Mitte: | 1.900 mm |
Höhe Motortunnel: | 0 |
Liege unten (B x L): | 750 x 2.150 mm |
Liege oben (B x L): | – |

