Leseprobe
Volvo FH und FH16 Aero: Weniger Wind, mehr Dampf
Der Volvo FH16 bleibt als legendäre Marke erhalten, das schlagende Herz ist aber ein neues: Den namensgebenden D16-Motor, seit Einführung 1987 mit unverändert 16,1 Liter Hubraum, liefern die Schweden künftig nur noch in Exportmärkte mit Abgasnormen bis Euro 5. Für Euro 6 (und gegebenenfalls darüber) bekommt der FH16 den buchstäblich aufgebohrten D17 implantiert: Gegenüber dem D16 bleibt es bei 165 Millimeter Hub, das Bohrungsmaß wächst von 144 auf 149 Millimeter. Weitere Merkmale sind neue Injektoren, ein elektronisch geregelter VTG-Lader und ein neues Kolbendesign. Zudem sprechen die Schweden von 70 Kilogramm weniger Motorgewicht als beim D16 und einer von 470 auf 520 kW gesteigerten Bremsleistung der Volvo Engine Brake. Dass der neue große Reihensechszylinder stückzahlmäßig auch abseits des Lkw Karriere machen soll, beispielsweise als Schiffs- und Industriemotor bei Volvo Penta, versteht sich.
Standardmäßig kombiniert Volvo den D17 mit I-Shift-Overdrive-Getrieben für bis zu 100 Tonnen Zuggewicht. Bis 325 Tonnen sind möglich, wenn das spezielle I-Shift mit Kriechgängen zum Einsatz kommt. Bei den Achskonfigurationen sind vom 4×2 bis zum 10×4 kaum Grenzen gesetzt, Allradfahrzeuge ausgenommen. Den Verkauf startet Volvo Mitte 2024, die Produktion soll in der zweiten Jahreshälfte anlaufen.
Mit der größeren Bohrung ergeben sich knapp 17,3 Liter Hubraum, woraus Volvo mehr Leistung und Kraft schöpft als je zuvor. Die Staffelung lautet nun 600, 700 oder 780 PS mit entsprechend 3.000, 3.400 oder 3.800 Nm maximalem Drehmoment. Alle Leistungsstufen sind für HVO freigegeben, der 700er auch für 100 Prozent Biodiesel.
Der Kenner sieht es sofort: In einem FH16-780 sind künftig 10 PS und 100 Nm mehr geboten als mit dem aktuellen Spitzen-V8 von Scania, womit die Krone des stärksten europäischen Serien-Lkw einmal mehr von Södertälje nach Göteborg wechselt. Das allein sollte es Volvo wert sein, mit Pauken und Trompeten zur Neuvorstellung einzuladen, doch heutzutage sind offenbar leisere Töne angesagt. Ein mächtiger Diesel für bis zu 74 Tonnen im 34,5-Meter-Lastzug schön und gut (das aktuelle Maximum im Heimatland Schweden), aber die Zeichen der Zeit stehen auf alternativen Antriebskonzepten und CO2-Einsparungen nach allen Regeln der Kunst.
Ein probates Mittel, wenn im Antriebsstrang die technischen Möglichkeiten ausgereizt scheinen, besteht in der weiteren Absenkung des Luftwiderstands – beim Fahren in der Ebene bekanntlich der erbittertste Gegner. Ähnlich wie DAF greift daher nun auch Volvo die großzügigeren EU-Bestimmungen auf, die für aerodynamische Maßnahmen einige zusätzliche Zentimeter Länge erlauben. Sind es bei DAF 16 Zentimeter am Vorbau und 33 an der Kabinenrückwand (in Summe also 49 Zentimeter), streckt der neue Volvo „FH Aero“ die Schnauze 24 Zentimeter weiter nach vorn.
Das Maß gilt für alle FH-Fahrerhäuser, ob mit Flachdach oder als Globetrotter XL, addiert sich aber auch perfekt zu den um 25 Zentimeter verlängerten Varianten der Serie Globetrotter XXL (in denen sich die zusätzliche Länge in 105 statt 80 Zentimeter Bettenbreite widerspiegelt). Diese ursprünglich für den australischen Markt aufgelegten Kabinen des FH und FH16, die Volvo regulär im eigenen Fahrerhaus-Werk in Umeå baut, könnten eine rasant steigende Nachfragen erleben: Statt des Nischendaseins mit kurzen Tank- und Siloaufliegern sind in der Aero-Version nun 13,6-Meter-Auflieger möglich, wie das hier zu Lande auch immer häufiger mit DAF XG und XG+ zu sehen ist.
Der leicht keilförmige Zuschnitt mit abgerundeten Kanten am neuen FH-Vorbau soll dem Fahrtwind minimale Angriffsfläche bieten. Zum Gesamtpaket, das je nach Antriebsart den Diesel-, Gas- oder Stromverbrauch laut Volvo um bis zu fünf Prozent reduziert, addieren sich abgedichtete Karosseriespalten, höhere Seitenschürzen und ein Kamera-Monitor-System. Außerdem ist das Volvo Iron Mark in deutlich größerer Form nach unten gewandert. Das freilich dürfte der Kabine keine weiteren aerodynamischen Vorteile verschaffen, als vielmehr – ganz praktisch – ein breite glatte Fläche unter der Frontscheibe. Dass viele Unternehmer das Markenlogo in der Vergangenheit selbst entfernten, um Platz für eigene Schriftzüge zu schaffen, war Volvo schon länger ein Dorn im Auge. Die Markteinführung der neuen Modelle plant Volvo in den Jahren 2024/2025 schrittweise in den vier Versionen FH Aero (Diesel), FH Aero Electric, FH Aero Gas-Powered (LNG) und FH16 Aero.
Im unteren, reflektierenden Frontgrill der Aero-Modelle weisen die Waben eine schicke 3D-Struktur auf, wobei das komplette Teil vorgeklappt als Frontaufstieg und Freisitz dient. Den „Parkbank“-Gedanke à la Scania hat Volvo konsequent zu Ende gedacht: Links und rechts sind zwei Cupholder eingelassen. Die Kehrseite der Medaille: Anders als bei den zwei vorderen Trittstufen an den bisherigen FH-Fahrerhäusern kommen kleinere Fahrer nun ohne Hilfsmittel kaum noch an den oberen Rand der Windschutzscheibe und den Frontspiegel.
Apropos bisherige FH-Fahrerhäuser: Die bleiben ebenfalls im Programm, wobei sich auch die Inneneinrichtungen mit oder ohne Aero-Vorbau unverändert zeigen. Die Neuheiten betreffen vor allem Aktualisierungen in den Bereichen Fleet-Software, Infotainment (unter anderem mit zusätzlichen Apps), Soundsystem und Navigation. Für den weiteren Jahresverlauf fiel bei der Präsentation das Schlagwort „keyless Start“, was angesichts des Motor-Start-Stopp-Knopfs in den aktuellen Renault T eine Adaption für die schwedischen Konzernbrüder erwarten lässt.
Die markanteste Neuerung findet sich in Form der 12 und 15 Zoll großen Monitore an den A-Säulen, die optional die Haupt- und Weitwinkelspiegel ersetzen. Die entsprechenden Kameras sind an der Dachkante in anklappbaren Armen installiert, die mit 35 Zentimeter vergleichsweise weit herausragen. Bei ersten Probefahrten im Göteborger Volvo-Democenter, wo vom FM Electric über FH LNG und FH I-Save Diesel bis zum FH16-780 ein kompletter Querschnitt parat stand, zeigten sich in den Monitoren die mittlerweile gängigen Features: Auflieger-Mitverfolgung bei Kurvenfahrt, eingeblendete Distanzlinien, spezielle Rückfahr- und Nacht-Modi oder auch eine Zoom-Funktion. Die Steuerung hat Volvo in das übliche Türmodul integriert, in dem sich beispielsweise die (ansonsten automatische) Kameraheizung auch manuell zuschalten lässt, etwa bei Nebel.
Auf der Beifahrerseite sind in den Ausleger zwei Kameras integriert, von denen eine die Überwachung des Toten Winkels übernimmt (anstelle der unterhalb der Scheibe installierten Kamera an „verspiegelten“ FH oder FM). Das Bild der Nahbereichs-Überwachung erscheint bei gesetztem Blinker im Sekundärdisplay. Noch mehr Kameras sind nicht vorgesehen: Im Gespräch wollten die Göteborger Produktspezialisten eine Erweiterung zwar nicht ausschließen, für den Moment bleiben Rampen- und Frontspiegel aber dran. Von der Aerodynamik her sieht Volvo keinen großen Handlungsbedarf: Der fast waagerechte Rampenspiegel bietet kaum zusätzliche Angriffsfläche, und der Frontspiegel sitzt bei den FH und FM ohnehin fast press an der Scheibe (das Kamera-Monitor-System gibt es für beide Baureihen, den Aero-Vorbau aber nur für FH und FH16).
Weitere Erkenntnisse der kurzen Proberunden: Unterhalb vom neuen D17 bleibt im Wesentlichen alles wie gehabt, bei den verschiedenen Dieselmotoren bis hin zum D13 Turbocompound ebenso wie beim Methan-Motor G13 (mit LNG im Tank, Diesel für die Zündung und AdBlue in der SCR-Anlage) und den aktuellen Elektro-Varianten. Im Detail spricht Volvo aber von reduzierter innerer Reibung und verlängerten Wartungsintervallen bei den I-Shift-Getrieben sowie einem erweiterten Funktionsumfang des vorausschauenden I-See-Tempomaten (insbesondere hinsichtlich Kurvenradien und Kreisverkehren).
Bei den FM und FH Electric lässt eine zur IAA 2022 angekündigte E-Achse weiter auf sich warten, es bleibt vorerst bei gekoppelten Triebsträngen mit bis zu drei E-Motoren und angepasstem 12-Gang-I-Shift-Getriebe. Auf der Fahrt mit einem brandneuen FM Electric präsentiert sich aber immerhin das digitale Display komplett an den E-Triebstrang angepasst, insbesondere mit Durchschnittsangaben zu kWh pro 100 km oder pro Stunde (zur Vorstellung der FH und FM Electric im September 2021 hatte die Ansicht noch ziemlich provisorischen Charakter).
Mit Blick auf die General Safety Regulation hatte Volvo bei den Testwagen auch alle aktuellen Sicherheitssysteme installiert, von denen einige die EU-Richtlinien freiwillig übertreffen. So zum Beispiel eine sensiblere Reifendruckkontrolle mit verbesserten Sensoren, eine Radar-Seitenüberwachung beid- statt nur einseitig und ein zusätzliches Door Opening System (warnt bei dem Versuch, trotz rückwärtigem Verkehr die Fahrer- oder Beifahrertür zu öffnen).
Die größte Show liefert eine Runde im FH16-780. Volvo hatte die 34,5-Meter-Kombination mit 6×4-Zugmaschine auf rund 65 Tonnen ausgeladen, was sich beim Fahren auch nicht viel anders anfühlt, als ein gängiger 480er im 40-Tonnen-Lastzug. Kunststück: In beiden Fällen errechnen sich 12 PS pro Tonne, damit sollte man hinkommen. Spektakulärer als das Gewicht nimmt sich ohnehin der Blick in die Rückspiegel beziehungsweise die Monitore aus: Was im ersten Moment wie ein dicht auffahrender Kollege erscheint, ist der eigene zweite Auflieger. EU-Irrsinn gibt es derweil auch im hohen Norden: Die Regierung in Stockholm erlaubt in der 34,5-Meter-Kombi 74 Tonnen, die in Helsinki 76. Im grenzüberschreitenden Verkehr muss der Finne also zwei Tonnen abspecken.
Ausschließlich in batterieelektrischer Version liefert Volvo den neuen FM Low Entry mit vor- und tiefgesetztem Fahrerhaus (50 Zentimeter nach vorn, 25 nach unten). Mit zusätzlicher Kneeling-Funktion beträgt die Einstiegshöhe lediglich 900 Millimeter, womit der FM Low Entry Electric auf typische Einsätze in der Müllsammlung zielt, aber auch im Verteiler- oder Baustellenverkehr. Ein Beifahrersitz ist in den Links- oder Rechtslenkern generell nicht vorgesehen, dafür bis zu drei Sitzplätze an der Kabinenrückwand. Die elektrische unterstützte Lenkung Volvo Dynamic Steering ist Standard, die Ausstattung mit Spiegeln oder Kamera-Monitor-System optional. Weitere Alternativen: Normal- oder Hochdach mit knapp 1,60 oder zwei Meter Innenhöhe, Zusatzverglasung in der linken Tür (nur beim Rechtslenker), Staukasten hinterm Fahrersitz (Außenstaufächer gibt es keine) sowie Zwei-, Drei- oder Vierachser mit bis zu 32 Tonnen Gesamtgewicht (aufgrund der Batteriemontage Vierachser aber nur in Tridem-Ausführung). Als zusätzliche Option sollen Schiebetüren folgen.
Im Gegensatz zum Niederflur-Modell FE LEC, das in einer Kooperation mit Estepe in den Niederlanden entsteht, realisiert Volvo den FM Low Entry Electric komplett in Eigenregie. Den Verkauf startet Volvo im ersten Quartal 2024, die Produktion soll im folgenden Quartal starten.
Wenn Volvo Trucks Präsident Roger Alm in abschließender Runde von der größten Produktoffensive in der Unternehmensgeschichte spricht, bezieht er ganz nebenbei auch den US-amerikanischen Hauber Volvo VNL mit ein, der nun ebenfalls aerodynamisch optimiert und mit Kamera-System auftritt. Gleichzeitig verspricht er eine ganze Reihe weiterer Innovation schon in naher Zukunft. Themen wie Brennstoffzelle und Wasserstoffverbrenner wurden dabei zwar nicht explizit erwähnt, aber auch hier geht die Reise mit Sicherheit noch weiter.