Leseprobe
Experten-Fahrbericht: Volvo FH im XXL Format
Vom Nischenprodukt zum Topseller? Was in der Lkw-Industrie nicht allzu häufig vorkommt, könnte dem Volvo Globetrotter XXL gelingen. Denn das um 25 Zentimeter verlängerte Globetrotter-XL-Fahrerhaus, ursprünglich für den australischen Markt entwickelt, könnte mit dem windschnittigen Vorbau des FH Aero eine zweite Karriere starten: Mit den zwecks Aerodynamik gelockerten EU-Längenbestimmungen ist es mit einem derartigen „FH Aero XXL“ nun ganz legal und ohne Ausnahmegenehmigung möglich, einen Auflieger im 13,6-Meter-Standardmaß zu ziehen.
Ob sich der XXL-Volvo in der bislang exklusiven Liga eines DAF XG+ tatsächlich zur echten Konkurrenz auswächst, steht freilich noch in den Sternen. Das Kundeninteresse am langen Haus ziehe zwar an, heißt es bei Volvo, die weitere Entwicklung müsse man aber abwarten. Für ein Hochfahren der Produktion sei das Fahrerhauswerk im schwedischen Umeå jedenfalls flexibel genug, und Fakt ist: Ein FH Aero Globetrotter XXL, wie er Ende Juli zu einer Probefahrt um die Münchener Deutschland-Zentrale der Schweden bereitstand, ist schon jetzt bei jedem Volvo Trucks-Händler bestellbar.
Bei der näheren Inspektion der Kabine zeigt sich, dass der Umbau des normalen Globetrotter XL ins XXL-Format gar keine allzu großen Kopfstände erfordert: Der Rohbau bleibt im Grunde erhalten, die Verlängerung beschränkt sich auf eine Art Rucksack, der von der Dachkante bis zum Kabinenboden reicht. Entsprechend bleiben die unteren Außenstaufächer, die beidseitig unter dem Boden hängen, im üblichen 30-Liter-Format vorhanden. Dagegen wachsen die oberen Außenstaufächer um die 25 Zentimeter „Rucksacklänge“ mit, was das Volumen von jeweils rund 200 auf über 250 Liter wachsen lässt. Zusätzlich sind die Fächer nun durch einen Tunnel zwischen ausgestellter Rückwand und dem Unterbau der Liege verbunden: Jener Unterbau entspricht dem normalen Globetrotter XL, weshalb auch die Schublade beziehungsweise der Kühlschrank unterm Bett nicht von der Verlängerung profitiert.
Dasselbe Schema setzt sich bei den oberen Schränken fort, die statt einer zweiten Liege an Bord sind: Das Staumodul stammt aus dem üblichen Serienbaukasten und ist zur ausgestellten Rückwand hin nur mit einer Blende versehen. Eine durchaus mögliche, 25 Zentimeter tiefere Schrankwand ist nur auf den ersten Blick eine Formsache: Auch daran hängen wieder Homologationen, Crashtests und sonstiger Papierkram, den sich Gesetzgeber und Prüforganisationen gerne einfallen lassen. Allemal gut gelungen ist die schicke LED-Beleuchtung der Schränke, leider kommen sich aber die Schiebetüren in die Quere: Es lassen sich entweder die linken und rechten Abteile zur Mitte hin öffnen, oder die mittleren Türen zur Seite – beides gleichzeitig geht nicht.
Längere Sitzschienen nach hinten sind ebenfalls Fehlanzeige, was den Nutzen der Verlängerung schlussendlich auf drei Kernpunkte reduziert: ein insgesamt großzügigeres Raumgefühl, die gewachsenen Außenstaufächer und ein bis zu 105 statt 80 Zentimeter breites Bett – wobei vor allem letzteres in der Fahrergunst weit oben stehen dürfte. Material der Wahl ist eine 15 Zentimeter starke Taschenfederkernmatratze, einen Lattenrost hält Volvo aber für verzichtbar. Das Bedienteil an der Rückwand ist immerhin digital ausgeführt, wobei sich von der Koje aus zwecks Außenüberwachung auch die Kamera-Monitore einschalten lassen.
Was die angesprochene Fahrergunst anbelangt, kann der angetretene FH Aero 500 Globetrotter XXL mit einer ganzen Reihe weiterer Aspekte punkten. Da wäre zum Beispiel der bärenstarke 12,8-Liter-Turbocompound, der in der 500-PS-Version mit gewaltigen 2.800 Nm Drehmoment antritt, 200 bis 300 Nm mehr als in dieser Leistungs- und Hubraumklasse üblich. Der Triebstrang in der „I-Save“-Version setzt sich mit einer 2,31 übersetzten Hinterachse, 315/70er Reifen und einem I-Shift-Direktganggetriebe fort – also NICHT mit dem I-Shift-Doppelkupplungsgetriebe, das es nach wie vor nur als Overdrive gibt und um das es generell ziemlich ruhig geworden ist. Beim Thema Dauerbremsen belässt es Volvo im Vorführwagen bei der Volvo Engine Brake, die es mit bis zu 590 Brems-PS für einen 13-Liter-Motor auf eine stattliche Leitung bringt. Die (zusätzliche) Alternative wäre ein Voith-Retarder.
Abrufen lässt sich die Motorbremsleistung am fünfstufigen Lenksäulenhebel, mit der Belegung Automatik (die Motorbremse liegt mit auf dem Bremspedal), Neutral (Bremspedal nur für die Scheibenbremsen) und dann die Bremsleistung in drei Stufen. Detail am Rande: In älteren FH waren die Automatik und die Neutralstellung vertauscht, was sich in der Praxis aber nicht bewährt hat: Stellten die Fahrer nach dem Bremsvorgang den Hebel intuitiv ganz nach oben zurück, hatten unter der deaktivierten Automatik unweigerlich die Bremsbeläge zu leiden.
Die weiteren Spritspar-Maßnahmen am aktuellen FH I-Save, neben jüngsten innermotorischen Feinarbeiten: variable Ölpumpe, neue Lichtmaschine mit höherem Wirkungsgrad, elektronisch geregelte Lenkhelfpumpe mit variablem Durchfluss, neuer auskuppelbarer Zweizylinder-Luftpresser aus Aluminium und nicht zuletzt rollwiderstandsoptimierte Reifen (mit breiten 385/55ern vorne). Eine zusätzliche Software-Maßnahme: Die dynamische Drehmomentanpassung „I-Torque“, aktiv im Economy-Modus mit Tempomat und in den oberen beiden Gängen beim Fahren mit Gaspedal. Im Gesamtpaket wird das Fahrzeug gegenwärtig (auch noch bei Zulassung nach dem 01.07.24) in der für Diesel bestmöglichen Maut-/CO2-Klasse 3 eingestuft.
Nicht gespart hat Volvo bei Annehmlichkeiten wie dem elektrisch verstellbaren Fahrer-Luxussitz, der integrierten Standklimaanlage „I-Park Cool“ und der elektrohydraulischen Kipphydraulik mit Kabelfernbedienung. Komplett ohne Elektrik, aber sehr komfortabel: Die breite Klappstufe in der Aero-Front, die als Freisitz dient und konsequenterweise mit zwei Getränkehaltern aufwartet. Bis zur Oberkante der Scheibe müssen sich kleinere Staturen beim Wischen zwar gewaltig strecken, aber immerhin ist es möglich – vielerorts, etwa bei den schweren DAF oder der neuen Actros Pro Cabin, verweisen die Hersteller nur noch auf die lange Putzstange.
Im Gegensatz zum Standardmotor Volvo D13 nutzt beim D13TC eine zweite Turbine im Abgaskanal die weiterhin hohen Temperaturen zur zusätzlichen Energiegewinnung. Übertragen wird die zusätzliche Power über eine mechanische Kupplung direkt auf die Kurbelwelle. So kommen beim D13TC eben jene 2.800 Nm zustande (beim 500er D13 sind es 2.500 Nm). Dass der Triebstrang konsequent auf diese Bärenkräfte abgestimmt ist, wird mit Blick auf den Drehzahlmesser schnell klar: Zum einen liegen bei 85 km/h nur rund 1.060 Umdrehungen an, zum anderen fällt die Drehzahl am Berg regelmäßig an die 900er-Marke heran. Faszinierend ist, wie ruhig und vibrationsarm es selbst im Drehzahlkeller bleibt, was gar nicht erst die Versuchung aufkommen lässt, vielleicht doch manuell einen Gang runterzuschalten. Der Drehzahlmesser selbst wird mit den Anfang 2020 im FH eingeführten digitalen Instrumenten nur noch als schmales Band am unteren Rand dargestellt. Kombiniert damit ist eine klassisch-runde Tachodarstellung oder weitere Ansichten mit rein digitaler Geschwindigkeitsanzeige. So oder so sind die Instrumente gut und blendfrei lesbar.
Neben der zusätzlichen Turbine unterscheidet sich der D13TC vom D13 durch eine gekühlte statt ungekühlte Abgasrückführung. Wie frühere Tests mit beiden Motortypen gezeigt haben, sinkt dadurch insbesondere der AdBlue-Verbrauch deutlich: Von größenordnungsmäßig acht bis neun Prozent beim D13 (anteilig auf den verbrauchten Diesel) auf nur noch gut fünf Prozent beim Turbocompound. Klar ist aber auch: Der D13TC bietet die größten Verbrauchsvorteile bei niedrigen Drehzahlen auf der Langstrecke, wogegen der D13 vor allem im schweren Verteilerverkehr und auf der Baustelle seine Berechtigung hat. Etwa 70 Kilogramm leichter als der Turbocompound ist der D13 obendrein.
Mit der doppelten Lenksäulenverstellung lässt sich das Lenkrad im FH steiler stellen als in jedem anderen Lkw, das neue Kamera-Monitor-System hinterlässt einen tadellosen Eindruck und die VDS-Lenkung ist eine Klasse für sich. Beim VDS-System (Volvo Dynamic Steering) ermöglicht ein Elektromotor auf dem Lenkgetriebe zweierlei: zum einen aktive Lenkeingriffe in Verbindung mit dem kamerabasierten Spurwächter, zum anderen eine fast beliebige Anpassung des Lenkverhaltens. Im Sekundärdisplay lassen sich dazu verschiedene Voreinstellungen wählen oder einzelne Parameter individuell anpassen (wobei das Profil gespeichert und mit eingelegter Fahrerkarte abgerufen wird).
Die angesprochene Spurrückführung ist Teil des neuen Pilot Assist, unter dem Volvo die Features zum teilautonomen Fahren zusammenfasst. Fühlbar wird der aktivierte Pilot Assist mit einem leichten Gegenmoment am Lenkrad, das sich im Volvo aber vergleichsweise dezent bemerkbar macht. Zum Schlendrian soll es aber auch nicht verleiten, denn bis zu einer deutlichen Warnung dürfen die Hände maximal rund zehn Sekunden vom Lenkrad wegbleiben.
Wie gewohnt lassen sich zum vorausschauenden „I-See“-Tempomat, der in der jüngsten, Datenbank- UND kartenbasierten Generation auch Kurvenradien und Kreisverkehr berücksichtigt, diverse Über- und Unterschwinger einstellen. Damit kombiniert sind zusätzliche Schwungspitzen von zirka 3 km/h im Auslauf von Gefällen. Sind zum Beispiel autobahnübliche 85 km/h plus 5 km/h für den Bremstempomat eingestellt, kann sich der mitgenommene Schwung kurzzeitig bis auf 93 km/h auswachsen. „Blitzermäßig“ ist das nicht ohne, und auch sonst maximal halblegal, wird aber in ähnlicher Form mittlerweile von fast allen Herstellern praktiziert. Fast schon paradox in diesem Zusammenhang: Mit der installierten (und von der General Safety Regulation geforderten) Tempolimit-Erkennung kehrt der Tempomat mit der Reset-Funktion grundsätzlich nur auf die erlaubten 80 km/h zurück und muss erst wieder aktiv übersteuert werden. Volvo argumentiert hier mit den geltenden Vorschriften, andere Hersteller sehen das lockerer – man darf gespannt sein, ob sich diesbezüglich in Zukunft eine einheitliche Linie herauskristallisiert.
Gefühlsmäßig einen Tick zu weich kommt beim zirka 38 Tonnen schweren Vorführ-Sattelzug die Federung daher. Das liegt aber weniger am vollluftgefederten Chassis, mit dem Volvo häufiger zum Test kommt, als am zusätzlich Vier-Punkt-luftgefederten Fahrerhaus: Hier ist eher der typische Mix aus Schraubenfedern vorne und Luftfederbälgen nur hinten zu empfehlen.
Ein echter Leckerbissen in Verbindung mit den luftgefederten Achsen ist die Funktion „aktives Chassis“: Auf Knopfdruck aktiviert, senkt sich das Fahrgestell ab 60 km/h automatisch um einige Zentimeter ab. Die derart geduckte Haltung, mit dem ohnehin tief gezogenen Aero-Vorbau dann nur noch knapp über der Fahrbahn, gibt nicht nur ein sportliches Bild ab, sondern spart auch den ein oder anderen Tropfen Diesel.
Weitere Informationen, insbesondere zu den Themen FH Aero, Kamera-Monitor-System und Pilot Assist:
Volvo FH und FH16 Aero: Weniger Wind, mehr Dampf
Volvo FH Aero: Die Probe aufs Exempel
MOTOR
Reihensechszylinder (D13T500A) mit Turbolader, Ladeluftkühlung und Turbocompound (zweite Turbine im Abgaskanal), obenliegende Nockenwelle, vier Ventile pro Zylinder, Common-Rail-Einspritzung (bis 2.400 bar); Euro 6E mit gekühlter AGR, Partikelfilter und SCR
Bohrung/Hub 131/158 mm
Hubraum 12.777 cm3
Nennleistung 368 kW (500 PS) bei 1.240-1.600/min
Maximales Drehmoment 2.800 Nm bei 900-1.240/min
Motorbremse: VEB, max. 435 kW (591 PS) bei 2.300/min
KRAFTÜBERTRAGUNG
Getriebe: Volvo I-Shift AT2812, Dreigang-Grundgetriebe mit Range- und Splitgruppe, 12 Gänge, 4 Rückwärtsgänge, Übersetzung 14,94 bis 1,00, automatisierte Schaltung mit GPS-Tempomat I-See
Hinterachse: einfach übersetzte Antriebsachse (RSS1244B) mit Differenzialsperre, Übersetzung 2,31 : 1, entsprechend 128,2 km/h bei Nenndrehzahl und Bereifung 315/70 R 22,5
FAHRGESTELL
U-Profil-Leiterrahmen (7,0 mm stark), Vollluftfederung mit „aktivem Chassis“ (automatische Absenkung ab 60 km/h), elektrisch unterstützte Lenkung Volvo Dynamic Steering, Bereifung vorn/hinten: 385/55 R 22,5 / 315/70 R 22,5 (Conti Efficient Pro, Alufelgen Alcoa Durabright); 3.800 mm Radstand; Leergewicht Zugmaschine: 8.615 kg (mit 1.305 Liter Diesel, 90 Liter Adblue und Fahrer); Testgewicht ca. 37.500 kg
FAHRERHAUS
Volvo Globetrotter XXL, Ganzstahl-Fahrerhaus mit Hochdach, einer Liege und Schrankwand oben, Vier-Punkt-Luftfederung, Kamera-Monitor-System anstelle Haupt- und Weitwinkelspiegel, Aerodynamik: Vorbau FH Aero (24 cm), Dach- und Seitenspoiler, Seitenschürzen; Klimaautomatik, integrierte Standklimaanlage; elektrohydraulische Kippvorrichtung; elektrisch verstellbarer Fahrer-Luxussitz, Lederlenkrad, 33-l-Kühlschrank in Schubfach unter Liege, LED-Scheinwerfer mit adaptivem Fernlicht und dynamischem Kurvenlicht.
Außenbreite/-länge: 2.495/2.714 mm
Einstieg: 400/770/1.150/1.540 mm
Frontscheibe/Rückwand 2.340 mm
Innenbreite (Scheibe-Scheibe): 2.263 mm
Innenhöhe vor Sitz/auf Motortunnel 2.030/2.105 mm
Höhe Motortunnel: 90 mm
Liege unten (B x L): 1.055 x 2.130 mm