Mercedes-Benz eActros 600 Pro Cabin Streamspace

Leseprobe
Experten-Test eActros 600: Elektrischer (Vor-)Reiter

von | 2. Mai 2024

Was mit den eActros 300 und 400 für Verteiler- und Regionalverkehr begann, führt der eActros 600 fort: Der jüngste batterieelektrische Daimler-Spross nimmt die Langstrecke ins Visier.
Foto: Truckexperten

Premiere: Der eActros 600 bestreitet als erster batterieelektrischer Lkw die Fernverkehrs-Messstrecke.

Ein neues Lkw-Modell noch vor dem Serienstart zu testen, ist ein seltenes Vergnügen. Der Mercedes eActros 600, vorgestellt im Oktober 2023 und voraussichtlich ab Ende 2024 in Wörth in Produktion, markiert einen solchen Glücksfall. Mit einem seriennahen Prototypen, im Daimler-Sprech „C-Muster“ genannt, hat sich Versuchsingenieur Dirk Stranz im Frühjahr auf Erprobungstour begeben und damit für eine weitere Premiere gesorgt: Erstmals geht ein batterieelektrischer Lkw auf unsere Verbrauchsmessrunde, die zuvor nur Diesel- und einige LNG-Fahrzeuge unter die Räder genommen haben. Die seitens Daimler Truck angestrebte Botschaft: Bei der für den eActros 600 genannten Reichweite von 500 Kilometern – beladen und unter Fernverkehrs-Bedingungen – muss keinem potentiellen Käufer bange sein.

Nun denn, die nackten Zahlen gleich vorab: Beladen auf rund 36,5 Tonnen nahm der eActros 600 mit Dreiachs-Sattel die Strecke in Angriff, mit 99 Prozent Ladezustand zu Beginn und 42 Prozent am Ende. Unterstellt man, getreu der Typenbezeichnung, 600 kWh nutzbare Batteriekapazität, entspricht das absolut 342 kWh auf 318 gefahrene Kilometer und somit einem Durchschnittsverbrauch von 107 kWh. Auf den (netto) gemessenen Streckenabschnitten, die traditionell Eingang in die Verbrauchswertung finden, sind es mit 110 kWh etwas mehr, aber so oder so errechnet sich eine Reichweite von rund 550 Kilometern. Die Selbsteinschätzung der Daimler-Strategen, bei den versprochenen 500 Kilometern eher konservativ unterwegs zu sein, wird somit bestätigt. Selbst wenn anzumerken ist, dass die Rückrechnung des prozentuellen Ladezustands (basierend auf den Anzeigen des Bordcomputers) auf die absolut verbrauchten Kilowattstunden nur Zirka-Angaben mit einem gewissen Schwankungsbereich erlaubt.

Foto: Truckexperten

Auch im Gewand der Pro Cabin präsentieren sich Cockpit und Instrumente in gewohnter Form.

Aus Testersicht gibt es zur Verbrauchs- und Reichweitenfrage ebenfalls ein Ausrufezeichen. Denn auf der schweren Strecke, die mit vielen fünf- bis sechsprozentigen Steigungen, ebensolchen Gefällen und nur wenigen Teillastbereichen aufwartet, ist bislang noch kein 32 bis 40 Tonnen schwerer Lastzug mit Diesel-Zugmaschine unter einem Durchschnittsverbrauch von 30 Litern geblieben. Die meisten Spediteure dürften mit dem Flottenverbrauch deutlich darunter liegen und können somit ermessen, dass sich die Strecke entlang der Autobahnen A62, A1 und A60 von Kusel bis Prüm und zurück am oberen Topographie-Anforderungsprofil bewegt.

Die angeführten 600 kWh basieren auf drei Batteriepaketen, die beim eActros 600 quer unter dem Rahmen installiert sind – die Bauweise mit E-Achse und somit ohne Kardanwelle macht´s möglich. Pro Batteriepaket sind 207 kWh geboten, in Summe also 621 kWh, die sich laut Daimler Truck auch fast vollständig (zu über 95 Prozent) nutzen lassen. Ein weiterer Punkt pro LFP-Technologie: Nach 1,2 Millionen Kilometern soll der Batteriezustand („State of Health“) noch über 80 Prozent betragen.

Nicht wegdiskutieren lässt sich das Gewicht: 1.420 Kilogramm für jedes Paket ergeben allein knapp 4,3 Tonnen für die Batterien, die immerhin nicht vollständig die Nutzlast schmälern. Denn der Gesetzgeber gewährt der rund 11,7 Tonnen schweren Elektro-Zugmaschine einen Bonus von 2 Tonnen (also 42 statt 40 Tonnen Zuggewicht), womit sich ein reales Nutzlast-Minus von 1,5 bis 2,0 Tonnen gegenüber einem konventionellen 40-Tonner ergibt. Als Vergleichs-Maßstab dient dabei ein Actros Streamspace mit rund 950 beziehungsweise 1.100 Kilogramm schwerem 11- oder 13-Liter-Motor, Retarder, 600 bis 800 Liter Diesel und standardmäßigem AdBlue-Tank (60 Liter).

Pro Cabin mit vertrautem Cockpit und Bonus für die Zuglänge

Abstriche bei der Länge sind keine zu machen: Zwar kommt die Zugmaschine mit 4 Meter Radstand und einem Sattelvormaß von 650 Milimeter (der Gewichtsverteilung wegen) mit 13,6-Meter-Auflieger auf eine Gesamtzuglänge von 16,75 Meter, die zusätzlichen 25 Zentimeter sind aber dank der aerodynamischen Pro Cabin kein Problem. Den entscheidenden Punkt liefert die Genehmigung gemäß Richtlinie „96/53/EG Artikel 9A“, die entsprechend im Typenschild im Türrahmen vermerkt ist. Bezüglich Fahrverhalten und -komfort gibt es mit dem langen Radstand keinen Grund zu klagen, ebenso wenig bei der standardmäßigen Vollluftfederung. Geschmacksache bleibt die weiche Gesamtabstimmung mit dem ebenfalls luftgefederten Fahrerhaus und die hohe Sitzposition auf dem ebenen Kabinenboden, aber das betrifft auch die Diesel-Actros.

Das zuvor angeführte Stichwort „Streamspace“ gilt auch für den Testwagen, dessen Pro Cabin in eben dieser Variante antritt. Optional gibt es die abermals höheren Big- und Gigaspace, aber keine niedrigeren Dachhöhen, keine tief montierten Kabinen mit Motortunnel und keine schmalen Häuser mit 2,30 Meter Breite. Analog trifft das künftig auf die Diesel-Zugmaschinen der Serie Actros L zu, die ebenfalls die Pro Cabin übernehmen. Von den – freilich sehr umfangreichen – aerodynamischen Maßnahmen abgesehen, bleiben die Inneneinrichtungen der bisherigen Stream-, Big- und Gigaspace weitgehend erhalten.

Auch beim eActros 600 präsentiert sich der Arbeitsplatz in gewohnter Form, sieht man von den an den E-Antrieb angepassten Anzeigen im Primär- und Sekundärdisplay ab. Jene entsprechen im Wesentlichen denen eines im Herbst 2022 getesteten eActros 300, insbesondere mit den drei Fahrmodi Range, Economy und Power, die sich jederzeit am Lenkäulenhebel wechseln lassen. Dabei steht Range („Reichweite“) für eine Beschränkung auf 70 Prozent Motorleistung und 82 km/h, Economy für 85 Prozent und 85 km/h sowie Power für 100 Prozent und 89 km/h. Hinzu kommt eine Boost-Anzeige bei durchgetretenem Kickdown, wobei ein Leuchtband am unteren Rand des Rundinstruments anzeigt, wie lange die erhöhte Antriebsleistung zur Verfügung steht (die Boost-Anzeige leert sich bei durchgetretenem Kickdown und füllt sich beim normalen Fahren wieder).

Foto: Truckexperten

Economy-Modus: Beschränkt auf 85 Prozent Leistung und 85 km/h.

Passend zu den üblichen Testvorgaben (85 km/h in der Ebene, 90 km/h bergab) lief die Testfahrt im Economy-Modus ab, kombiniert mit Schwungfenstern von -/+ 5 km/h im vorausschauenden PPC-Tempomat (plus weiteren 3 km/h „Dip“ bis maximal 45 Sekunden im Auslauf von Gefällen). Analog zum Diesel steht das PPC-System (Predictive Powertrain Control) im eActros 600 also ebenfalls zur Verfügung, genauso wie der teilautonome Active Drive Assist, unter anderem mit aktiver Spurrückführung.

Die im Prototyp verbaute Messelektronik liefert darüber hinaus einige sehr interessante Einblicke. In einem langen Fünf- bis Sechsprozenter zum Beispiel haben wir versuchsweise die Fahrprogramme gewechselt und erstaunliche Werte abgelesen: 388 kW (527 PS) momentane Leistungsanforderung in Economy, 456 kW (620 PS) in Power und satte 638 kW (867 PS) in Power mit durchgetretenem Kickdown! Die abrufbaren Reserven, vorzugsweise zum schnellen Überholen, sind also enorm. Bei diesem einen Experiment haben wir es freilich belassen, die Testfahrt lief ansonsten durchgehend in Economy ab. Der Geschwindigkeit tat das keinen Abbruch: Mit durchschnittlich 84,8 km/h über die gesamte Teststrecke liegt das Tempo locker auf dem Niveau von 500-PS-Zugmaschinen.

Besagte Steigung absolvierte der eActros im dritten von vier Gängen, was gleichzeitig das Limit auf der Teststrecke darstellte: weiter runter dürfte es allenfalls in extremen Steilstücken auf der Landstraße gehen. Wirklich spürbar sind die Gangwechsel übrigens nicht, man muss sich bergauf schon bewusst auf die kommende Schaltung konzentrieren. Ein weiterer Aha-Effekt: Bei den Innengeräuschen unterbot die Messung in der Steigung sogar noch den Wert in der Ebene. Ganz einfach deshalb, weil bei geringerem Tempo am Berg die Windgeräusche abnehmen, und vom Antrieb ohnehin in allen Lebenslagen kaum etwas zu hören ist. Dazu noch das Abrollen der Reifen und ab und zu der Luftpresser: das war´s im Wesentlichen. Schlussendlich liegen beide gemessenen Werte, 61,3 dB(A) in der Ebene und 60,0 dB(A) am Berg, traumhaft niedrig und lassen Gespräche mit dem Beifahrer im Flüsterton zu. Ohne äußere Sonnenblende (am Testwagen der Optik wegen angebaut, aerodynamisch bei der Streamspace im Gegensatz zur Gigaspace ansonsten nicht zu empfehlen) ginge es in puncto Windgeräusche vermutlich sogar noch leiser.

Mit Rekuperation läuft die Tankuhr rückwärts

Die Reifen treten rollwiderstandsoptimiert an, was beim E-Fahrzeug einen noch wichtigeren Punkt als beim Diesel darstellt. Die Energieeinsparung in der Ebene beziehungsweise das weite Ausrollen im Freilauf betrifft zwar beide Antriebsarten; während aber der Rollwiderstand dem Diesel beim Bremsen im Gefälle „hilft“, behindert er beim E-Fahrzeug die maximal mögliche Rekuperation. Und die, wie sich auf der bergigen Teststrecke mehrfach zeigt, ist bei der Verbrauchs- und Reichweitenfrage der batterieelektrischen Zugmaschine der alles entscheidende Faktor. Wenn beispielsweise allein im zehn Kilometer langen Anstieg nach dem Moseltaldreieck der Batteriestand von 59 auf 52 Prozent sinkt, umgerechnet satte 42 kWh, wird der Speicher von Gefälle zu Gefälle wieder aufgefüllt – die Tankuhr läuft sozusagen rückwärts.

Die Algorithmen zur Reichweiten-Berechnung zeigen sich schon jetzt weit fortgeschritten und beziehen ganz offensichtlich nicht nur das Gewicht, sondern auch die GPS-gestützte Streckenvorausschau mit ein: Die verbleibenden Kilometer folgen nicht stur dem Ladezustand, sondern werden auf Basis der weiteren Topographie berechnet. Am genauesten wird´s mit einer einprogrammierten Navi-Route. Detail am Rande: Bis über 300 Kilometer Restreichweite zeigt das Display 10-Kilometer-Schritte an, darunter folgen 5-Kilometer-Schritte. Auch das Fahrprogramm wird berücksichtigt: Versuchsweise in einem Flachstück schnell durchgeschaltet, werden in Range 300, in Economy 285 und in Power 275 Kilometer Restreichweite angezeigt.

Foto: Truckexperten

Haarscharf: Mit der luftgefederten Vorderachse über die Bordsteinkante, und es klappt auch mit der stirnseitigen Ladesäule.

Antriebs- und Bremsleistung satt

Die beiden in der Summe bis 600 kW starken E-Motoren bilden mit dem angebauten Planetensatz (der letztlich das Vierganggetriebe bildet), eine auf 800 Volt ausgelegte E-Achse, die Daimler Truck im Werk Kassel produziert. Umgekehrt sind im Schubbetrieb bis 600 kW Rekuperations- beziehungsweise Bremsleistung aufgerufen, das ist bei den meisten Diesel-Lkw ohne Retarder nicht zu schaffen. Zum Vergleich: Der im Fernverkehr gängige 12,8-Liter-Motor Mercedes OM 471 kommt bei „lauten“ 2.300 U/min auf maximal 410 kW Bremsleistung.

Je nach Fahrprogramm lassen sich verschiedene Rekuperationsstufen bis hin zum Ein-Pedal-Modus wählen, wobei sich letzterer nur im Stadtverkehr und Stau anbietet. Grundsätzlich lässt sich bis auf Schrittgeschwindigkeit rekuperieren, erst ab drei bis vier km/h braucht es zum kompletten Stillstand die Scheibenbremsen. Eine weitere Kernkomponente beim Thema Bremsen ist der High Power Brake Resistor, kurz HPR oder auch „Wasserkocher“ genannt. Der Hochleistungsbremswiderstand kommt beispielsweise zum Zug, wenn es direkt nach dem Laden in ein langes Gefälle geht. In einem solchen Fall lässt sich die Bremsenergie nicht rekuperieren beziehungsweise in die vollen Batterien einspeisen, sondern muss in Form thermischer Energie abgeführt werden. Zusätzlich zur (intelligent) gekoppelten Kühlung für die Hochvoltbatterien und das Antriebssystem verfügt das HPR-System über einen eigenen Kühlkreislauf.

Ladestandard ist CCS mit bis zu 400 kW und MCS (Megawattladen) mit bis zu 1.000 kW (im April 2024 im hauseigenen Entwicklungs- und Versuchszentrum in Wörth erstmals praktisch erprobt). Entsprechende Ladebuchsen sind am Fahrzeug installiert, standardmäßig angebracht auf der Fahrerseite. Nebenbei bemerkt: Wie sich beim abendlichen Laden am Autohof zeigt, notgedrungen mit dichtem Ranfahren an die stirnseitige Ladesäule, wäre auch ein Anschluss hinter der Frontklappe, wie das zum Beispiel beim Scania BEV der Fall ist, keine schlechte Idee.

Ein Vorteil beim langsamen Depot-Laden ist die Möglichkeit, dabei nicht nur elektrische, sondern auch thermische Energiie zu ziehen. Sprich: Die Batterien auf optimale Betriebstemperaturen von zirka 22 Grad vorzuheizen. So aber, nach dem abendlichen Vollladen und dem morgendlichen Start bei 7 Grad Außentemperatur, ist mit der abgezweigten Energie für die Batterieheizung auf dem ersten Teil der Strecke unweigerlich ein leichter Mehrverbrauch verbunden – auch, wenn das Heizmanagement „intelligent“ gesteuert ist und nicht konstant Leistung abruft. Man kann wohl getrost davon ausgehen, das hier wie auch in vielen weiteren Detailfragen noch reichlich Entwicklungspotential vorhanden ist. Die kommenden Elektro-Tests nach der Jungfernfahrt des eActros 600 werden es zeigen.

Messwerte und Technische Daten
Messwerte
Verbrauch kWh/100 km
Gesamte Strecke: 110
Schwere Teilstücke: 139
Leichte Teilstücke: 81
Geschwindigkeit km/h
Gesamte Strecke: 84,8
Schwere Teilstücke: 84,3
Leichte Teilstücke: 85,3
Innengeräusch Ebene (85 km/h): 61,3 dB(A)
Innengeräusch max. (Steigung): 60,0 dB(A)
Elektroantrieb
Bauart zwei flüssigkeitsgekühlte Permanent-Magnet-Motoren
Leistung Dauer-/Spitzenbetrieb 400/600 kW
Drehmoment Dauer-/Spitzenbetrieb k.A.
Nebenantrieb elektrisch oder elektrisch-mechanisch, 22 bis 90 kW
Batterien
Art/Anzahl LFP/3
Kapazität, gesamt 621 kWh
Reichweite (Herstellerangabe) rund 500 km
Ladeverfahren CSS bis 400 kW, MCS bis 1.000 kW
Triebstrang
Kraftübertragung und Bereifung Elektrische Starrachse mit zwei integrierten Elektromotoren und automatisiertem 4-Gang-Getriebe, Bereifung vorn/hinten: 315/70 R 22,5 (Michelin Energy)
Fahrgestell     
Rahmen, Federung, Lenkung U-Profil-Leiterrahmen, Vollluftfederung (Hinterachse Vier-Balg-Luft), elektrisch unterstützte Servotwin-Lenkung
Radstand 4.000 mm
Achslasten (techn.) 9.000/13.000 kg
Testgewicht (ohne Fahrer) 36.500 kg
Aufbau Sattelkupplung Jost mit Montageplatte, Sattelvormaß 650 mm
Fahrerhaus
Modell breites, hoch montiertes Fahrerhaus Actros Pro Cabin Streamspace, Vier-Punkt-Luftfederung, zwei Liegen
Innenhöhe Mitte 1.900 mm
Innenhöhe rechts 1.840 mm
Frontscheibe bis Rückwand 2.115 mm
Motortunnel (B x H)
Einstiegshöhe 1./2./3./4. Stufe 370/730/1.050/1.350 mm
Kabinenbodenhöhe 1.670 mm
Varianten
Konfigurationen 4×2-Sattelzugmaschine, 4.000, 4.600, 4.900 mm Radstand; 6×2-Fahrgestell
Fahrerhäuser Pro Cabin in den Versionen Stream-, Big- und Gigaspace
Batteriepakete 3 Packs LFP-Batterien à 207 kWh Standard

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