Experten-Test Actros 1863: Überraschend vernünftig
Mehr Actros geht nicht: Mit einem 1863 Gigaspace rückt das ultimative Mercedes-Flaggschiff zum Test an. Die Kombination beinhaltet zum einen die größte Fahrerhaus-Variante aus Wörth, zum anderen mit 625 PS den stärksten Motor aus dem Motorenwerk in Mannheim. OM 473 heißt das Kraftpaket, das mit Produktionsbeginn im Dezember 2013 den V8 endgültig in Rente geschickt hatte.
Der 15,6 Liter große Reihenmotor war hierzulande von Beginn an auf Euro 6 ausgelegt, die Wurzeln reichen mit dem DD16 der US-amerikanischen Tochter Detroit Diesel freilich schon weiter. Eine Paradedisziplin bilden heute Schwertransporte bis 250 Tonnen im Actros SLT, und als MTU 1500 hat der Sechszylinder längst auch in Bau-, Forst- und Landmaschinen Karriere gemacht. Die häufig aufgeworfene Frage, ob sich derart große und starke Motoren stückzahlmäßig überhaupt rechnen, stellt sich im Fall des vielseitigen OM 473 also erst gar nicht.
Einen technischen Leckerbissen bildet die Turbocompound-Technik, die für den OM 473 schon viel länger selbstverständlich ist wie beispielsweise für den neuen D13TC im Volvo FH. Bei der jüngsten Generation hat Mercedes vor allem an der Common-Rail-Einspritzung „X-Pulse“ gearbeitet: Der maximale Raildruck wurde von 900 auf 1.160 bar, der maximale Einspritzdruck von 2.100 auf 2.700 bar gesteigert. Charakteristisch für den Turbocompound ist eine zweite, dem (Wastegate-)Turbolader nachgeschalteten Turbine. Sie nutzt die weiterhin vorhandene Abgastemperatur, wobei die zusätzlich gewonnene Energie über eine Welle und hydrodynamische Kupplung auf den Rädertrieb des Motors und damit direkt auf die Kurbelwelle übertragen wird. Naturgemäß ist der Effekt der „kostenlos“ beigesteuerten Leistung unter hoher Last am größten und geht unter Teillast, beispielsweise auf flacher Autobahn, gegen Null.
In der Testauswertung spiegelt sich die Theorie in der Praxis wider: Insbesondere auf den schweren Streckenabschnitten liegt der Verbrauch für einen derart starken Motor sehr günstig. Im Mittel ergibt sich ein Verbrauch von 34,5 Liter, was selbst in der gängigen 13-Liter-Klasse um 480 PS noch einen akzeptablen Wert bedeuten würde.
Euro 6 D erfüllt der OM 473 mit der Kombination aus gekühlter Abgasrückführung, Partikelfilter und SCR-Abgasreinigung, wobei sich der AdBlue-Verbrauch mit knapp vier Prozent vom Diesel in engen Grenzen hält. Deutlich wird das beim Vergleich mit einem Scania 650 S mit SCR-only-V8: Der kam bei einem leicht höheren Durchschnittstempo ebenfalls auf 34,5 Liter Diesel, schluckte aber mit 2,61 statt 1,33 Liter fast doppelt so viel AdBlue. Ein einwandfreies Ansprechverhalten und viel Kraft schon bei niedrigen Drehzahlen sind weitere Pfunde, mit denen der 625-PS-Motor wuchern kann. Der Triebstrang aus automatisiertem Overdrive-Getriebe der Generation Powershift 3 und 3,15 übersetzter Hinterachse ist beim OM 473 seit Jahren bewährt und mit 40 Tonnen für alle Lebenslagen passend: Im 12. Gang auf der Autobahn und im direkt übersetzten 11. Gang auf der Landstraße liegen je rund 1.100 Umdrehungen an.
Mit über 650 PS kommt auch die Dekompressions-Motorbremse auf eine stattliche Leistung, wobei die Frage mit dem ebenfalls eingebauten Voith-Wasserretarder fast müßig ist. Alle auf der Testrunde anstehenden Gefälle hat das Duo aus Jake Brake und Retarder jedenfalls ohne Beibremsungen sicher im Griff. Wenn die Fuhre doch mal über die angesetzten 90 km/h schiebt, liegt das an der zusätzlich aktivierten Schwungspitze von 2 km/h, die im Auslauf kurzzeitig also bis zu 92 km/h erlaubt. Einstellbar ist dieser „Über-Überschwinger“ zwischen 0 und 4 km/h, wobei überhaupt gilt, dass sich im neuen Actros mit Active Drive Assist (ADA) von der Spurlage zwischen den Fahrbahnrändern bis zu den Kurvengeschwindigkeiten so ziemlich alles justieren und je nach Ladung oder persönlichen Vorlieben anpassen lässt.
Bis das alles in Fleisch und Blut übergangen ist, dauert seine Zeit und ein ausführliches Studium der Betriebsanleitung ist dringend geboten. Und sei es nur, um die zahlreichen Mirrorcam-Einstellungen sicher zu beherrschen oder einzelne Funktionen wie etwa den teilautonomen Landstraßen-Assistenten PPC Interurban aus dem Effeff zu- und abzuschalten. Denn, auch das muss man festhalten: Bei aller Elektronik bleibt der Fahrer der Chef im Ring und entscheidet selbst, welche Assistenzsysteme er dauerhaft oder situationsabhängig nutzen will. Auf jeden Fall ein Gewinn ist die mit dem ADA eingeführte, von einem Elektromotor unterstützte Servotwin-Lenkung, die sehr direkt und vom Feeling her straff reagiert. Die aktive Spurrückführung, die in Verbindung von Spurwächter und neuer Lenkung nun möglich ist, bleibt übrigens auch bei abgeschaltetem Active Drive Assist sicherheitshalber in Funktion.
Als Grundeinstellungen sind im 1863 die Fahrprogramme Standard, Economy und Power wählbar, jeweils auch mit Kickdown kombiniert (bei früheren Modellen waren jeweils nur zwei Programme installiert, Standard und Economy oder Standard und Power). Die Power-Version, laut Mercedes „rückschaltwillig und hochschaltunwillig ausgelegt“, empfiehlt sich aber allenfalls kurzzeitig mit hohen Ladungsgewichten auf sehr schweren Strecken. Ansonsten sind Standard oder Economy erste Wahl, wobei mit Economy die setzbare Tempomatgeschwindigkeit auf 85 km/h beschränkt ist – mit der üblichen Vorgabe im Test kein Problem. So oder so wird am Berg zügig geschaltet, vor Steigungen teilweise angegast und der Ecoroll-Freilauf vergleichsweise sparsam eingesetzt. Insbesondere werden keine Rollphasen durch ständig wechselndes Gasgeben und Auskuppeln künstlich herbeigeführt. Wie sich 115 PS zusätzlich in der Praxis auswirken, zeigt beispielhaft der Vergleich mit einem 510 PS starken Actros 1851: Den zehn Kilometer langen Anstieg nach dem Dreieck Moseltal nimmt der 1863 knapp 40 Sekunden schneller und muss dafür nur in den 11. statt in den 10. Gang.
Das Fahrverhalten hat Mercedes zuletzt mit einer kleinen, aber feinen Maßnahme verbessert: Zwei Längsdämpfer reduzieren bei den hoch montierten, luftgefederten Kabinen der Serien Stream-, Big- und Gigaspace die Nickbewegungen deutlich. Vom reinen Messwert her liegt der Schalldruck in der Kabine zwar nach wie vor höher als anderswo, subjektiv geht die Geräuschkulisse mit dem Turbocompound-Triebwerk aber in Ordnung – von einem Dröhnen in den Ohren kann wahrlich keine Rede sein. Was viele Fahrer freuen dürfte: Die schicke äußere Sonnenblende ist Standard und beim Gigaspace sogar aerodynamisch von Vorteil.
Logisch aber auch, dass der 1863 mit dem hohen Haus und einem Motorgewicht von rund 1.240 Kilogramm (gut drei Zentner mehr als der 12,8-Liter-Motor OM471) kein Leichtgewicht sein kann. Entsprechend kratzt der Testwagen mit nur 390 Liter Diesel, Fahrer und Beifahrer schon an der Acht-Tonnen-Marke. Die standesgemäße Ausstattung, unter anderem mit Standklimaanlage, zwei vollwertigen Betten mit Sieben-Zonen-Kaltschaummatratzen (allerdings immer noch ohne Leiter nach oben), klimatisierten Leder-Luxussitzen und nicht zuletzt dem Retarder gibt es nun mal nicht zum Nulltarif, weder finanziell noch auf der Waage. Neben einem Preis weit jenseits von 100.000 Euro muss man mit einem 1863 Gigaspace also auch Abstriche bei der Nutzlast verkraften können. Dafür aber bekommt man eine Zugmaschine, die gleichermaßen mit maximalem Fahr- und Wohnkomfort, hohen Fahrleistungen und günstigem Verbrauch aufwartet – und das klingt doch trotz 625 PS erstaunlich vernünftig.
Messwerte und Daten | |
Dieselverbrauch | l/100 km |
Gesamte Strecke: | 34,5 |
Schwere Teilstücke: | 39,0 |
Leichte Teilstücke: | 30,0 |
Volllast (5 % Steigung): | 95,6 |
Teillast (bei 85 km/h): | 22,3 |
Geschwindigkeit | km/h |
Gesamte Strecke: | 84,8 |
Schwere Teilstücke: | 84,3 |
Leichte Teilstücke: | 85,3 |
Volllast (5 % Steigung): | 77,8 |
AdBlue (l/100 km): | 1,33 (3,85 % vom Diesel) |
steigungsbedingte Schaltungen: | 13 |
Innengeräusch Ebene (85 km/h): | 65,8 dB(A) |
Innengeräusch max. (Steigung): | 69,5 dB(A) |
Fahrgestell/Gewicht | |
Bereifung vorn/hinten: | 315/70 R 22,5 |
Reserverad j/n: | n |
Tankgröße Diesel: | 390 Liter |
Tankgroße AdBlue: | 60 Liter |
Federung: | Zwei-Blatt-Parabel/Vier-Balg-Luft |
Rahmenstärke: | k.A. |
Radstand: | 3.700 mm |
Retarder j/n: | j |
Leergewicht vollgetankt, mit Fahrer: | 7.910 kg |
Testgewicht: | 39.740 kg |
Motor | |
Reihensechszylinder (OM 473) mit Turbolader, Ladeluftkühlung und Turbocompound (zweite Turbine im Abgaskanal), einteiliger Zylinderkopf, vier Ventile pro Zylinder, Common-Rail-Einspritzung | |
Abgasnorm: | Euro 6d |
SCR j/n: | j |
AGR j/n: | j |
Bohrung: | 139 mm |
Hub: | 171 mm |
Hubraum: | 15.569 ccm |
Leistung: | 460 kW (625 PS) bei 1.600/min |
Max. Drehmoment: | 3.000 Nm bei 1.100/min |
Motorbremse: | 480 kW bei 2.300/min |
Getriebe/Achse | |
Mercedes G330-12; automatisiertes Zwölfgang-Getriebe, Overdrive-Ausführung | |
Übersetzung HA: | 3,154 |
U/min bei 85 km/h (größter Gang): | 1.115 |
Fahrerhaus | |
Actros Gigaspace, Vier-Punkt-Luftfederung | |
Außenbreite/-länge: | 2.482/2.300 mm |
Einstiegsstufen: | 4 |
Einstiegshöhe: | 1.640 mm |
Scheibe/Rückwand: | 2.115 mm |
Innenhöhe vor Sitz: | 2.050 mm |
Innenhöhe Mitte: | 2.100 mm |
Höhe Motortunnel: | 0 |
Liege unten (B x L): | 750 x 2.150 mm |
Liege oben (B x L): | 750 x 2.150 mm |


