Experten-Test Scania R 450: Ausrufe-Zeichen
Auch wenn Scania auf eine treue V8-Kundschaft zählen kann, so ist doch der 12,7 Liter große Reihensechszylinder DC13 für die meisten Fernverkehrseinsätze die erste Wahl. Den gesetzlichen Vorgaben gehorchend, durchlief das Aggregat in den letzten Jahren einige Evolutionsstufen. Stolz verkündeten die Schweden, Euro 5 ohne SCR-Nachbehandlung zu schaffen und präsentierten Ende 2007 tatsächlich eine „AdBlue-freie“ Lösung allein mit Abgasrückführung (AGR).
Die nächste Verschärfung machte diesem Treiben ein Ende, auch in Södertälje hieß es bei den ersten lieferbaren Euro-6-Modellen AGR plus SCR. Mitte 2013 dann ein erneuter Sinneswandel: Aus dem zu Euro-5-Zeiten noch so resolut geschmähten AdBlue wurde in Gestalt einer 410-PS-Motorisierung nach dem Motto „SCR-only“, also ohne AGR, plötzlich die Lieblingszutat. Rund ein Jahr später folgte eine 450-PS-Version, an der sich das Kundenverhalten Eins-zu-Eins ablesen lässt. Denn zum gleichen Preis und mit gleicher Motorcharakteristik gibt es den 450er nach wie vor auch mit AGR plus SCR. Aber: Bei den Fernverkehrs-Sattelzugmaschinen mit 450-PS-Motor beträgt der Verkaufsanteil der SCR-only-Variante mittlerweile satte 93 Prozent.
Im Test lässt der Scania R450 Topline für dieses ungleiche Verhältnis die nackten Zahlen sprechen: Ein Durchschnittswert von 32,0 Liter Diesel markiert auf der Strecke einen neuen Tiefstwert, rund zwei Liter unter den besten AGR+SCR-Motoren dieser Leistungsklasse. Im Gegenzug beträgt der AdBlue-Konsum durchschnittlich 2,55 Liter (8,0 Prozent auf den Diesel bezogen), was wiederum im Vergleich je nach Modell und Marke etwa 1,3 bis 1,7 Liter mehr bedeutet. Ganz offenbar setzt also die Mehrzahl der Scania-Kunden auf weiterhin günstige AdBlue-Preise – als lose Ware für Großabnehmer schon für weniger als 20 Cent der Liter zu haben – und bestenfalls stagnierende Dieselpreise. Bei AdBlue im Kleingebinde sieht die Rechnung freilich anders aus, aber das dürfte sich inzwischen rumgesprochen haben.
Der R450 Topline ist zum 400-Liter-Messtank (drei Einfüllstutzen für restloses Befüllen) mit einem 47 Liter großen AdBlue-Tank ausgestattet, was für ein Testfahrzeug absolut in Ordnung geht. Bei einer in der Praxis üblichen Fernverkehrs-Konfiguration aus 1.200 Liter Diesel (700 plus 500 Liter) und 80 Liter AdBlue wäre bezogen auf den Testverbrauch genügend Harnstoff für rund 3.100 Kilometer an Bord. Teure Kanisterkäufe sollte man sich damit unterwegs verkneifen können. Darüber hinaus bietet Scania bis zu 100 Liter große AdBlue-Tanks an, die seitlich oder innen am linken Rahmenträger montiert werden.
Beim Blick ins Detail erweist sich der 450er in allen Lebenslagen als guter Futterverwerter, Teillast- und Volllastverbrauch liegen gleichermaßen niedrig. Das Geheimnis liegt in den sehr hohen und effektiven Verbrennungstemperaturen, die ohne Abgasrückführung möglich sind. Damit steigt zwar der Ausstoß von Stickoxiden, aber um eben die kümmert sich das reichlich verwendete AdBlue. Zur Erinnerung: Aus dem im AdBlue enthaltenen Harnstoff wird im heißen Abgas Ammoniak frei, der mit den Stickoxiden zu harmlosem Stickstoff und Wasser reagiert.
Am niedrigen Verbrauch hat der neue 450-PS-Motor sicherlich den größten Anteil, aber Scania hat auch an einigen weiteren Stellschrauben gedreht. Das ist zum Beispiel der aerodynamische Feinschliff, den die Schweden im Streamline-Paket zusammengefasst haben. Hinzu kommen bedarfsgerecht geregelte Nebenaggregate wie der elektronisch gesteuerte Lüfter. Eine weitere Zutat, die nach Einschätzung von Scania durchschnittlich ein halbes Prozent Diesel spart, ist der neue Retarder der Serie R4100D. Das Teil ist mit einer mechanischen Kupplung ausgestattet, womit sich Schleppverluste in der Ebene vermeiden lassen. Die Ansprechzeit bergab ist gefühlt wie zuvor, das Einkuppeln geht bei Bedarf blitzschnell. Am Leergewicht ändert sich auch nicht viel, laut Scania kommen gerade mal zwölf Kilogramm hinzu. Insgesamt sind das für den neuen Retarder dann rund 110 Kilogramm, die man sich tunlichst nicht von den Rippen schneiden sollte: Die Motorbremsleistung ist mit 384 PS bei 2.400 Umdrehungen in dieser Hubraumklasse wahrlich kein Ruhmesblatt. Entsprechend werden satte 98 Prozent aller zweiachsigen Scania-Sattelzugmaschinen mit Retarder verkauft.
Das automatisierte Opticruise-Getriebe kommt auf eine ähnlich hohe Quote, woran das „Zwei-Pedal-Opticruise“ den größten Anteil hat. Nach wie vor lässt Scania den Kunden aber die Wahl und liefert auf Wunsch weiterhin die altbekannte Variante mit Kupplungspedal. Vielen ist trotz Rangiermodus das eigene Spiel mit dem Kupplungsfuß eben immer noch lieber. Selbstverständlich sollte inzwischen die Kombination der Opticruise-Schaltung mit dem vorausschauenden CCAP-Tempomat sein. Die neueste Generation, die nicht nur die Tempomatgeschwindigkeit, sondern auch das Schaltgeschehen dem kommenden Geländeverlauf anpasst, funktioniert beeindruckend gut. Mit den mit Hilfe der GPS-Daten exakt berechneten Schaltungen, häufig auch mit Sprüngen vom zwölften in den zehnten zum Beispiel, erreicht der R450 jede Kuppe ohne jegliches Gangpendeln, und sei es bei nur noch knapp über 900 Touren.
Bei aller Perfektion bleibt die Opticruise-Variante „Basic“ kein schöner Gedanke: Damit sind manuelle Eingriffe nur noch bis 50 km/h möglich, dann übernimmt gänzlich der Computer. Zumindest in Deutschland ist der Verkaufsanteil dieser Version allerdings verschwindend gering. Beim Fahrverhalten und der exakten Lenkung gibt es beim Scania R nix zu meckern. Dass die Spiegel flattern ist unterwegs der einzige kleine Störfaktor, dafür liegen die Innengeräusche auf sehr niedrigem Niveau. Das liegt auch an den niedrigen Drehzahlen (bei 85 km/h knapp 1.200 Touren), die Scania dem Euro-6-Motor verordnet. Bei der einfach übersetzten Hinterachse ist mit 2,59 zu 1 die längste Übersetzung gewählt, die Alternativen liegen zwischen 2,71 und 3,42.
Zu Euro-3-Zeiten drehten Test-Scania in dieser Leistungsklasse (damals 440 oder 470 PS) auf der Autobahn deutlich über 1.400 Touren, entweder mit 315/70er Reifen und Übersetzung 3,08 oder 315/80er und 3,27. So ändern sich die Zeiten, aber immerhin haben zum Ausgleich auch die Drehmomente kräftig zugelegt. So hatte zum Beispiel der 470er Scania Turbocompound damals 2.200 Nm zu bieten, der aktuelle 450er kommt auf stattliche 2.350 Nm.
Standard, Economy und Power lauten die Alternativen bei den einstellbaren Opticruise-Fahrprogrammen. Zum Test empfahl Scania die Economy-Variante, bei der die Elektronik vor Steigungen nicht beschleunigt, der Kickdown deaktiviert ist und das Tempo beim Ausrollen um bis zu zwölf Prozent absacken darf: bei im Tempomat eingestellten 85 km/h also bis auf 75 km/h. Ein ums andere Mal, mit einem Kollegen dicht hintendrauf, war dann aber doch ein früheres Gas geben angezeigt. Der Bremstempomat bleibt frei setzbar, das Halten der Geschwindigkeit ist mit dem starken Retarder und den automatischen Rückschaltungen kein Problem. Mit den Lenkradtasten sind Tempomat und Bremstempomat obendrein sehr einfach zu bedienen.
Gut eingebunden ins Schaltgeschehen ist der Ecoroll-Freilauf, der effektiv genutzt wird, ohne störend zu wirken. Fragwürdig ist aber die Entscheidung, Ecoroll künftig auch ohne Tempomat einzusetzen. Im aktuellen Testfahrzeug mit SCR-only-Motor ist das bei Scania neu, der Freilauf setzt bei Geschwindigkeiten über 45 km/h auch ohne Tempomat beim Lupfen des Gaspedals ein. Mit Blick auf den Stadtverkehr wäre zumindest eine Untergrenze von 60 km/h vom Bauchgefühl her lieber. Gut ist auf jeden Fall, dass der Tempomat bei Beibremsungen rausfliegt und Scania-typisch die per Pedal angebremste Geschwindigkeit bergab automatisch gehalten wird.
Zum Topline-Fahrerhaus, das seit der Vorstellung der R-Serie jetzt doch schon über zehn Jahre auf dem Buckel hat, wurde in den vergangenen Jahren so ziemlich alles geschrieben. Schwachstellen wie die anfangs zu kleinen Öffnungen der Außenstaufächer hat Scania nach und nach beseitigt, außerdem besser ablesbare Instrumente und eine ausziehbare Komfortliege eingeführt. Beim Testfahrzeug hat Scania auf das obere Bett verzichtet, außer einer langen Kleiderstange ist die Rückwand dann allerdings ziemlich kahl (die Scharniere an der Stange dienen auch als Vorbereitung für den nachträglichen Einbau einer zweiten Liege).
Für den 4er Topline gab es seinerzeit noch schicke Einbauschränke für die Rückwand, wahlweise sogar als Küchenzeile – eine solche Option könnte Scania gern wieder ins Programm nehmen. Dagegen war der Lenkrad-Verstellbereich schon immer vorbildlich, aktuell nur getoppt von der zweistufigen (aber nicht serienmäßigen) Verstellung im Volvo FH. Auch Ablagen in Fahrerreichweite gibt es genügend, große Türtaschen inklusive. Dennoch nagt hier und da der Zahn der Zeit, etwa beim recht simplen 30-Liter-Kühlschrank mit Frontklappe und Schubbox unter der Liege. Aber dass Scania wohl bald neue Fahrerhäuser bringt, pfeifen die Spatzen ja schon von den Dächern. Zusammen mit dem Top-Antriebstrang könnte den Schweden ein ganz großer Wurf gelingen.
Messwerte und Daten | |
Dieselverbrauch | l/100 km |
Gesamte Strecke: | 32,0 |
Schwere Teilstücke: | 37,4 |
Leichte Teilstücke: | 27,4 |
Volllast (5 % Steigung): | 94,1 |
Teillast (bei 85 km/h): | 19,5 |
Geschwindigkeit | km/h |
Gesamte Strecke: | 81,6 |
Schwere Teilstücke: | 80,0 |
Leichte Teilstücke: | 83,2 |
Volllast (5 % Steigung): | 66,9 |
AdBlue (l/100 km): | 2,55 (8,0 % vom Diesel) |
steigungsbedingte Schaltungen: | 16 |
Innengeräusch Ebene (85 km/h): | 61,8 dB(A) |
Innengeräusch max. (Steigung): | 64,1 dB(A) |
Fahrgestell/Gewicht | |
Bereifung vorn/hinten: | 315/80 R 22,5 / 315/70 R 22,5 |
Reserverad j/n: | n |
Tankgröße Diesel: | 400 Liter |
Tankgroße AdBlue: | 47 Liter |
Federung: | Zwei-Blatt-Parabel/Vier-Balg-Luft |
Rahmenstärke: | 7,0 mm |
Radstand: | 3.700 mm |
Retarder j/n: | j |
Leergewicht vollgetankt, mit Fahrer: | 7.225 kg |
Testgewicht: | 39.700 kg |
Motor | |
Reihensechszylinder (Scania DC13 147) mit Turbolader und Ladeluftkühlung, Einzelzylinderköpfe, vier Ventile pro Zylinder, Common-Rail-Einspritzung | |
Abgasnorm: | Euro 6 |
SCR j/n: | j |
AGR j/n: | n |
Bohrung: | 130 mm |
Hub: | 160 mm |
Hubraum: | 12.742 ccm |
Leistung: | 331 kW (450 PS) bei 1.900/min |
Max. Drehmoment: | 2.350 Nm bei 1.000 bis 1.300/min |
Motorbremse: | 256 kW bei 2.400/min |
Getriebe/Achse | |
Scania GRS 895 R; automatisiertes Zwölfgang-Getriebe, Direktgangausführung | |
Übersetzung HA: | 2,59 |
U/min bei 85 km/h (größter Gang): | 1.190 |
Fahrerhaus | |
Scania R Topline, Vier-Punkt-Luftfederung | |
Außenbreite/-länge: | 2.470/2.260 mm |
Einstiegsstufen: | 3 |
Einstiegshöhe: | 1.450 mm |
Scheibe/Rückwand: | 2.065 mm |
Innenhöhe vor Sitz: | 2.260 mm |
Innenhöhe Mitte: | 2.100 mm |
Höhe Motortunnel: | 155 mm |
Liege unten (B x L): | 700-850 |
Liege oben (B x L): | – |