Experten-Test Scania R 730: Leistung im Überfluss
Wer braucht so viel Leistung? Wenn von einem Scania R mit 730 PS starkem V8 die Rede ist, lässt die Frage meist nicht lange auf sich warten. Mit 40 Tonnen im normalen Fernverkehr kann die Antwort eigentlich nur lauten: Man gönnt sich ja sonst nix. Wer das nötige Kleingeld für den sechsstelligen Preis aufbringt, mit Topline-Kabine ab 130.000 Euro aufwärts, erkauft sich souveräne Power, ein gewisses Prestige und neidische Blicke. Auf wirtschaftlicher Seite dürften die Argumente ziemlich schnell ausgehen. Im Schwertransport oder regelmäßig mit 60 Tonnen Gesamtgewicht wie in Skandinavien üblich sieht die Sache schon anders aus. Es ist ja auch kein Zufall, dass die beiden aktuell stärksten Serien-Lkw der Welt mit dem Scania R730 und Volvo FH16/750 aus Schweden kommen.
Das Testfahrzeug hievt mit seiner Komplettausstattung den realistischen Kaufpreis locker über 150.000 Euro. Da ist zum einen der Retarder, den Scania ohnehin bei fast jedem Fernverkehrsfahrzeug mitverkauft. Beim 16,4 Liter großen V8 verzögert die einfach gestrickte Scania-Motorbremse zwar immerhin mit bis zu 435 PS, aber so souverän bergab wie andersrum mit 730 PS bergauf geht es eben nur mit Retarder. Den frei justierbaren Bremstempomaten setzen oder die Wunschgeschwindigkeit am Pedal anbremsen und rollen lassen, mehr ist dann auch in starken Gefällen kaum noch zu tun, zumal das automatisierte Opticruise-Getriebe gegebenenfalls selbstständig auf über 2.000 Umdrehungen runterschaltet.
Ohnehin fällt auf der Autobahn nicht viel mehr Arbeit an, als zu lenken und sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Das Zusammenwirken von Opticruise und dem vorausschauenden Tempomaten „Active Predicition“ macht eigene Schaltarbeit praktisch überflüssig. Bleibt noch die Wahl des Fahrmodus, also „Standard“, „Economy“ oder „Power“. Letzterer muss beim 730er nicht sein, zumal damit auch der vorausschauende Tempomat deaktiviert wird. Standard, im Display als „A“ angezeigt, und Economy („AE“) unterscheiden sich am deutlichsten bei den Hysteresewerten, also Über- und Unterschwinger, bei gesetztem Tempomaten. Die werksseitige Vorgabe (die sich beim Scania-Händler ändern lässt) lautet plus vier und minus sechs Prozent bei „A“, null und minus zwölf Prozent bei „AE“.
Bei den im Test üblichen 85 km/h heißt das konkret: Im Standardmodus beschleunigt die Elektronik vor Steigungen auf 88 km/h und lässt das Tempo in Rollphasen je nach Topografie bis auf 80 km/h fallen. Im Economy-Modus bleibt das Schwungholen vor dem Berg aus und das Tempo darf gelegentlich bis auf 75 km/h sacken. Für die Testfahrt empfahl Scania Variante „A“, mit der auf hügeliger Strecke die Gleichung „Zeit ist Geld“ ziemlich genau aufgeht: Im Vergleich zur Economy-Einstellung steigen Verbrauch und Durchschnittsgeschwindigkeit um je rund zwei Prozent.
An der Getriebesteuerung feilt Scania kontinuierlich weiter und passt die Software entsprechend an. Beim Testfahrzeug zeigt sich das mit noch häufigeren Ecoroll-Phasen, also rollen lassen im Leerlauf. Galt bei einem zuvor getesteten R520 noch eine absehbare Einsatzdauer von zehn Sekunden als Richtschnur, so liegt dieser Wert nun drei Sekunden darunter: Wenn die Elektronik also absehen kann, dass der Straßenverlauf einen Ecoroll-Einsatz von mindestens sieben Sekunden hergibt, sackt die Nadel auf Leerlaufdrehzahl. Allerdings ausschließlich im Tempomatbetrieb, anders als etwa bei Volvo I-Roll – was kein Nachteil sein muss, wenn man zum Beispiel ganz bewusst den Schubbetrieb zum langsamen Verzögern einsetzen will.
Dass der vorausschauende Tempomat Einfluss auf die Schaltstrategie nimmt, war zuletzt eine weitere wichtige Neuerung, die Scania abermals verfeinert hat: An steilen Bergen werden nun mitunter auch Gänge übersprungen. Zumindest in der Theorie, beim bärenstarken 730er war dies auf der gesamten Teststrecke nicht der Fall. Lediglich auf dem Handlingkurs hoch zur Hunsrückhöhenstraße ging es bei zirka acht Prozent Steigung mal runter bis in den zehnten Gang und Tempo 60, was abermals die Kräfteverhältnisse unterstreicht: Ein im gleichen Zeitraum gefahrener Iveco Stralis mit 420 PS quälte sich an gleicher Stelle mit 39 km/h im achten Gang den Berg hoch. Freilich zeigen sich die Kräfteverhältnisse auch an der Zapfsäule: Kam eben jener Brot-und-Butter-420er mit durchschnittlich 33,9 Liter Diesel über die Runde, sind beim 730er 36,5 Liter aufgerufen. Wobei man fairerweise sagen muss, dass sich der Iveco mit seiner reinen SCR-Technik zusätzlich fast 2,5 Liter AdBlue genehmigt, der Scania V8 mit Abgasrückführung belässt es dagegen bei 1,7 Litern.
Zurück zum Stichwort „Komplettausstattung“: Zum einen lässt sich Scania bei der Inneneinrichtung nicht lumpen, unter anderem mit belüfteten Luxussitzen für Fahrer und Beifahrer. In technischer Hinsicht sind alle verfügbaren Sicherheitssysteme geboten, von Abstandsregler und Achslastanzeige über Notbremsassistent und Spurwächter bis zu Xenon-Scheinwerfern. Ein praktisches Detail ist der Lampencheck am Schlüsselbund: Durch zweimaliges Drücken der Lichttaste auf der Fernbedienung startet eine Prüfsequenz, bei der die komplette Außenbeleuchtung nacheinander eingeschaltet wird.
Neu ist eine elektronische Ölstandkontrolle, die allerdings nicht gerade ein Lieblingsthema von Scania zu sein scheint: Anfang 2008 hielt schon einmal eine entsprechende Anzeige in den Bordcomputer Einzug, um bald darauf wieder zu verschwinden – offenbar hat´s nicht zur vollen Zufriedenheit funktioniert. Jetzt starten die Schweden einen neuen, auch konsequenteren Anlauf: Der zusätzliche Ölmessstab ist nur noch bei gekippter Kabine erreichbar. Wird jedoch bei der Bestellung auf die optionale Elektronik verzichtet, bleibt der Stab wie gehabt hinter der Frontklappe.
Eher unüblich für ein Testfahrzeug ist der 540 Liter große Zusatztank zum 400-Liter-Messtank. Aber zum einen sieht das optisch einfach besser aus als das „Loch“ am Rahmen (zumal ohne Reserverad), zum anderen gibt es vermutlich auch minimale aerodynamische Vorteile dank geringerer Luftverwirbelungen. Dass die Batterien im Gegenzug am Rahmenende angesiedelt sind, hat außerdem den angenehmen Nebeneffekt einer besseren Gewichtsverteilung bei Leerfahrt.
Die luftgefederte Vorderachse des Testfahrzeugs ist auf holpriger Landstraße eine angenehme Sache, auf normaler Autobahn ist der spürbare Unterschied zur serienmäßigen Zwei-Blatt-Federung aber gering. Kurzum, die zusätzlichen Kosten und die 80 Kilogramm Mehrgewicht dürften in den meisten Fällen BDF-Fahrgestellen vorbehalten bleiben. Eine gute Investition ist dagegen die Vier-Balg-Luftfederung an der Hinterachse, die gegenüber der serienmäßigen Zwei-Balg-Variante nicht nur den Federungskomfort erhöht, sondern sogar fast einen Zentner einspart. Nicht dramatisch, aber Fakt: Mit der luftgefederten Vorderachse wächst der Bodenabstand um rund vier Zentimeter, womit die Zugmaschine optisch nicht ganz so satt auf der Straße liegt. Aber das ist nun wirklich nur ein Schönheitsfehler.
Messwerte und Daten | |
Dieselverbrauch | l/100 km |
Gesamte Strecke: | 36,5 |
Schwere Teilstücke: | 41,0 |
Leichte Teilstücke: | 31,9 |
Volllast (5 % Steigung): | 101,0 |
Teillast (bei 85 km/h): | 24,2 |
Geschwindigkeit | km/h |
Gesamte Strecke: | 86,5 |
Schwere Teilstücke: | 85,7 |
Leichte Teilstücke: | 87,3 |
Volllast (5 % Steigung): | 84,5 |
AdBlue (l/100 km): | 1,70 (4,6 % vom Diesel) |
steigungsbedingte Schaltungen: | 6 |
Innengeräusch Ebene (85 km/h): | 61,5 dB(A) |
Innengeräusch max. (Steigung): | 66,1 dB(A) |
Fahrgestell/Gewicht | |
Bereifung vorn/hinten: | 315/80 R 22,5 / 315/70 R 22,5 |
Reserverad j/n: | n |
Tankgröße Diesel: | 400+540 Liter |
Tankgroße AdBlue: | 47 Liter |
Federung: | Vollluft (hinten Vier-Balg-Luft) |
Rahmenstärke: | 8,0 mm |
Radstand: | 3.700 mm |
Retarder j/n: | j |
Leergewicht vollgetankt, mit Fahrer: | 8.560 kg |
Testgewicht: | 40.000 kg |
Motor | |
V8-Zylinder (Scania DC16 103) mit VGT-Turbolader (variable Geometrie) und Ladeluftkühlung, Einzelzylinderköpfe, vier Ventile pro Zylinder, Common-Rail-Einspritzung | |
Abgasnorm: | Euro 6 |
SCR j/n: | j |
AGR j/n: | j |
Bohrung: | 130 mm |
Hub: | 154 mm |
Hubraum: | 16.353 ccm |
Leistung: | 537 kW (730 PS) bei 1.900/min |
Max. Drehmoment: | 3.500 Nm bei 1.000 bis 1.400/min |
Motorbremse: | 320 kW bei 2.400/min |
Getriebe/Achse | |
Scania GRS0 925 R; automatisiertes Getriebe, 12+2 Gänge, Overdrive-Ausführung | |
Übersetzung HA: | 2,92 |
U/min bei 85 km/h (größter Gang): | 1.073 |
Fahrerhaus | |
Scania R Topline, Vier-Punkt-Luftfederung | |
Außenbreite/-länge: | 2.470/2.260 mm |
Einstiegsstufen: | 3 |
Einstiegshöhe: | 1.450 mm |
Scheibe/Rückwand: | 2.065 mm |
Innenhöhe vor Sitz: | 2.260 mm |
Innenhöhe Mitte: | 2.100 mm |
Höhe Motortunnel: | 155 mm |
Liege unten (B x L): | 700-850 x 2.250 mm |
Liege oben (B x L): | 700 x 1.900 mm |