Experten-Test: Iveco Stralis LNG als BDF-Zug
Das Angebot, Anfang Juni 2019 einen Stralis LNG erstmals als Wechselbrückenzug zu fahren, kam offen gestanden überraschend. Grundsätzlich interessant, klar, aber so kurz vor dem Modellwechsel zum S-Way nochmal mit dem Stralis ausrücken? Auf dem kleinen Dienstweg war die Sache dann schnell geklärt: Die anstehenden Neuerungen betreffen in erster Linie das Fahrerhaus, bei den Gasmotoren bleibt alles wie gehabt. Der Triebstrang des Stralis 260S46 6×2 markiert also weiterhin den aktuellen Stand der Iveco LNG-Technik. Die setzt bekanntlich auf einen monovalenten Gasantrieb nach dem Ottomotor-Prinzip, also mit Zündkerzen und einem Drei-Wege-Kat als einziger Abgasreinigungs-Komponente.
Die Nachfrage ist offenbar groß: Im Werk Madrid, wo die LNG-Varianten mittlerweile in die Serienfertigung integriert sind (bis 2013 fanden die Gas-Umbauten bei Astra in Italien statt), läuft die Produktion laut Iveco auf Hochtouren. Nachlesen lässt sich der Boom auch an anderer Stelle: Die LNG-Tankstelle vor den Toren von Magirus in Ulm, basierend auf einem Containerchassis mit rund 25 Kubikmeter großem LNG-Tank, wird inzwischen fast täglich neu befüllt.
Sind die LNG-Tanks voll, spricht Iveco von 1.600 Kilometer Reichweite bei einem maximalen Volumen von zweimal 540 Liter. Beim Testwagen reduziert sich das Maß auf rund 1.300 Kilometer, da hier nur zwei 450-Liter-Tanks Platz finden (was in der Summe 380 Kilogramm LNG entspricht). Bei der eigenen Modellrechnung setzt Iveco einen Durchschnittsverbrauch von circa 28,5 Kilogramm LNG an – sozusagen im Fernverkehrs-Mittel, über alle Gewichte und Streckenprofile hinweg.
Beim Wechselbrückenzug, auf 32 Tonnen ausgeladen und mit nur 2.300 Kilometer Laufleistung so gut wie neu, ist die Verbrauchsfrage leider nicht verlässlich zu beantworten, zumal mangels LNG-Tankstelle kein Abgleich der Bordcomputer-Daten möglich war. Festhalten lässt sich aber, dass 32 Tonnen für den mit 460 PS, aber nur 2.000 Nm Drehmoment ausgestatteten Gasmotor ein passendes Zuggewicht darstellen. Im Vergleich zu einem Stralis 460 LNG als 40-Tonnen-Sattelzug erzielt der leichtere Gliederzug zum Beispiel auf einer schweren Autobahnetappe ein deutlich höheres Durchschnittstempo von 83,1 statt 80,4 km/h. Im Detail bewältigt der BDF-Zug einen sechs Kilometer langen Fünf- bis Sechsprozenter fast 40 Sekunden schneller als besagter Sattel, muss dafür nur in den 10. statt 9. Gang und schwimmt insgesamt deutlich besser im Verkehr mit. Kurz: 40 oder gar 44 Tonnen im Kombiverkehr sind für den Stralis 460 LNG machbar, sollten aber nicht die Regel darstellen.
Die relativ kleinen 450-Liter-Tanks sind dem Wechselrahmen geschuldet, dessen höhenverstellbaren Aufnahmen bei den längeren 540-Liter-Tanks vorne aufsetzen würden. Mag die Reichweite auch etwas geringer sein, bleibt immerhin der Trost von 120 Kilogramm weniger Gewicht: Laut Hersteller Chart bringen die 540-Liter-Tanks leer je 318 Kilogramm auf die Waage, die 450-Liter-Varianten „nur“ 258. Unabhängig vom Volumen sind die Tanks verbunden und werden über die Armatur auf der Beifahrerseite befüllt, wofür sich Seitenanfahrschutz einfach vorklappen lässt. Die Tankarmatur wiederum ist mit einem Klappdeckel geschützt, dessen Verschluss kontrolliert wird: Mit offener Abdeckung startet der Motor nicht. Weiterhin ist auch eine „Mischkonfiguration“ mit CNG- und LNG-Tanks am selben Fahrzeug möglich, die aber nur sehr vereinzelt nachgefragt wird.
So oder so ist mit dem Gasmotor der voller Fernverkehrskomfort geboten, woran sich auch mit den neuen S-Way-Fahrerhäusern nichts ändern dürfte. Dabei geht es im vollluftgefederten Wechselbrückenzug ziemlich sänftenartig daher, ein bisschen wie im Reisebus, und extrem leise ist es obendrein: Vom Gasmotor ist im Vergleich zum Diesel so gut wie nichts zu hören. Da stört es auch nicht, dass es mit einem etwas höheren Drehzahlniveau durch die Lande geht: Vom Drehmoment her hat der 12,9 Liter große Gasmotor schon gegenüber einem 460 PS starken Cursor 11-Diesel um 150 Nm das Nachsehen, von den 12,9-Liter-Dieselvarianten ganz zu schweigen. Zwar verwies Iveco schon zur Vorstellung des Methan-Cursor-13 im Herbst 2017 auf etliche Neuentwicklungen bei Kraftstoffrail, Kolben, Gasinjektoren und Turbolader, die im Vergleich zum Diesel sehr hohen Verbrennungstemperaturen scheinen aber doch strikte Limits bei Leistung und Drehmoment zu verordnen.
Ein Manko des Otto-Gasmotors ist die fehlende Motorbremse. Ein Retarder ist somit unverzichtbar, wobei sich am Steuer aber kaum ein Unterschied zum Diesel feststellen lässt: Statt zuerst die Motorbremse und dann in 20-Prozent-Stufen den ZF Intarder zu aktivieren, werden beim LNG am sechsstufigen Hebel je 16 bis 17 Prozent der Retarderleistung abgerufen. Auch in einem weiteren Punkt greift Iveco in die Trickkiste: Serie ist beim Gasmotor die Kombination aus Overdrive-Getriebe und kurz übersetzter Achse (in der Regel 3,36, optional 3,70 oder gar 4,11). Der Schachzug dient dazu, bei niedrigen Geschwindigkeiten auf eine höhere Gelenkwellendrehzahl zu kommen, auf die der Sekundärretarder nun mal angewiesen ist. Gegenüber einer üblichen Übersetzung von 2,64 (mit Direktganggetriebe) liegt mit der 3,36er Achse die Gelenkwellendrehzahl im Schubbetrieb um rund ein Viertel höher.
Auf einem Landstraßenabschnitt mit einigen sechs- bis siebenprozentigen Gefällen gab sich der Stralis LNG jedenfalls von der Dauerbremse her keine Blöße. Liegen häufigere Touren auf Bundesstraßen an, ist der Overdrive ohnehin kein Schaden: Rund 65 km/h sind bei 1.180 Umdrehungen im direkt übersetzten 11. Gang genau richtig. Generell ist für den LNG das Traxon-Getriebe mit allen gewohnten Funktionen verfügbar, also auch mit Ecoroll (ab 55 km/h mit und ohne Tempomat aktiv) und GPS-basierter Streckenvorausschau (beim Testwagen allerdings ohne, da vom späteren Käufer so gewünscht). Die Schaltvorgänge gehen einen Tick langsamer vor sich, als vom Diesel gewohnt, aber das ist Jammern auf hohem Niveau.
Auch alle Assistenzsysteme stehen zur Wahl, beim Testfahrzeug ergänzt um eine Nahbereichsüberwachung auf der Beifahrerseite, bestehend aus einem Kamera-Monitor-System und Radarsensoren. Die Sensoren greifen bis etwa 1,40 Meter Entfernung, das Kamerabild wird bis 30 km/h sowie bei gesetztem (Warn-)Blinker eingeblendet. Das Brigade-System hinterlässt unterwegs einen guten Eindruck und steht bei Iveco als Werkseinbau zur Wahl.
Je nach Größe der LNG-Tanks dürften 30.000 bis 40.000 Euro Aufpreis gegenüber einem Diesel fällig sein. Mit Fördergeldern und Mautersparnissen sollte die Summe schnell wieder drin sein, bleibt die Frage nach dem Wiederverkauf. Die hält man bei Iveco aber für überschätzt: Zum einen sei das Tankstellennetz schon fast überall dichter als in Deutschland, ein europaweiter Gebrauchtmarkt also vorhanden. Zum anderen würden die Kunden aufgrund günstiger LNG-Kilopreise und Mautbefreiung ohnehin mit sehr hohen Laufleistungen kalkulieren, etwa im Linien- und Begegnungsverkehr. Und dafür wiederum ist der BDF-Zug ja prädestiniert.
MOTOR
Wassergekühlter Sechszylinder-Methan-Reihenmotor (Cursor 13 F3H), oben liegende Nockenwelle, vier Ventile pro Zylinder, Turbolader mit elektronisch geregeltem Wastegate-Ventil, Ladeluftkühlung, stöchiometrische Verbrennung mit Drei-Wege-Katalysator und Lambdasonde, Multipoint-Einspritzung mit Niederdruck-Common-Rail, Euro 6C
Bohrung/Hub 135/150 mm
Hubraum 12.880 cm3
Verdichtung 12 : 1
Nennleistung 338 kW (460 PS) bei 1.600 bis 1.900/min
Maximales Drehmoment 2.000 Nm bei 1.100 bis 1.600/min
Motorgewicht 1.240 kg (trocken)
KRAFTÜBERTRAGUNG
Kupplung: automatisierte, elektropneumatisch geregelte Einscheiben-Trockenkupplung (ZF ConAct), 430 mm Durchmesser
Getriebe: ZF Traxon 12 TX 2010 TO, Dreigang-Grundgetriebe mit Range- und Splitgruppe, 12 Gänge, Overdrive-Ausführung, Übersetzung 12,92 bis 0,77, automatische Schaltung; Intarder
Hinterachse: einfach übersetzte Antriebsachse mit Differenzialsperre, Übersetzung 3,36 zu 1; entsprechend 1.188/min bei 85 km/h und Bereifung 315/70 R 22,5
FAHRGESTELL
Doppelt gekröpfter U-Profil-Leiterrahmen (302,4 x 80,0 x 7,7 mm), Radstand 4.800/1.395 mm, Vollluftfederung (Antriebsachse Zwei-Balg-Luft), elektronisch geregelte Scheibenbremsen rundum, zwei LNG-Kryotanks à 450 Liter Nennvolumen, Bereifung: Vorderachse 385/55 R 22,5, Antriebs- und Nachlaufachse 315/70 R 22,5, ZF Hydrolenkung, 470 mm Lenkraddurchmesser, 4,75 Umdrehungen von Anschlag zu Anschlag; BDF-Aufbau von Göbel, mechanisch höhenverstellbar für drei Abstellhöhen; Leergewicht Motorwagen (ohne Fahrer): 10.070 kg, Testgewicht mit Anhänger: 32.000 kg
FAHRERHAUS
Fernverkehrs-Fahrerhaus Stralis Hi-Way, luftgefedert, Hochdach mit Spoilerfunktion, äußere Sonnenblende, zwei Liegen, Haupt- und Weitwinkelspiegel elektrisch verstell- und heizbar, Frontspiegel beheizt, getöntes und elektrisch betätigtes Glashubdach, H7-Halogenscheinwerfer mit LED-Tagfahrlicht, Zentralverriegelung mit Fernbedienung; weitere Ausstattung u.a. Luxus-Fahrersitz, manuelle Klimaanlage, 25-l-Kühlbox rechterhand und 50-l-Kühlschrank unter der Liege, „Iveconnect“-Mediencenter mit Touchscreen