Leseprobe
Experten-Test: Neuer Herzschlag im MAN TGX
Es sind die Zehnerstellen im Bohrungsmaß, die traditionell die Typenbezeichnung von MAN-Motoren prägen. 108 Millimeter spiegeln sich im MAN D08 wider, 115 im D15, 126 im D26 und 130 im D30. So weit, so normal. Und dennoch steht der D30 im aktuellen Testwagen, einem TGX 18.560 mit großem GX-Fahrerhaus, für einen waschechten Zeitenwechsel: Der 12,7 Liter große Reihensechszylinder stammt aus dem Mutterkonzern Traton (wie MAN gerne sagt), schlussendlich aber von Scania (wie MAN nicht so gerne sagt).
Für eine gewisse Versöhnlichkeit ist immerhin gesorgt: Das Aggregat wird nicht zugeliefert, sondern mittlerweile im Werk Nürnberg von MAN selbst gebaut. Die 560 PS im Testwagen bedeuten das Maximum, die Alternativen lauten 380, 410, 440, 480 oder 520 PS. Vom Prinzip her handelt es sich praktisch um einen SCR-only-Motor, denn die ungekühlte Abgasrückführung (HGR = Hot Gas Recirculation) kommt lediglich in Schubphasen, im Leerlauf und bei Niedriglast zum Einsatz. Dafür gibt es die SCR-Abgasnachbehandlung gleich doppelt, mit zwei nacheinander angeordneten Katalysatoren mit jeweils eigener AdBlue-Eindüsung. Dieses „Twin-SCR“-Verfahren hatte Scania zunächst für den V8 eingeführt und dann auf die 13-Liter-Motoren übertragen.
Bei gekipptem GX-Haus ist vom neuen D30 erstmal nicht viel zu sehen, denn das gute Stück ist der Geräuschkulisse wegen gekapselt. Der Kniff macht sich bei Teillast zwar nicht allzu sehr bemerkbar (65,4 dB(A) am Fahrerohr sind immer noch unterer Durchschnitt), bei Volllast dagegen ist im Vergleich zum D26 ein positiver Effekt zu verzeichnen. Wobei, von wegen Teillast: Die gemessene Lautstärke bei Test-typischen 85 km/h bezieht sich auf den 13. von 14 Gängen, was beim Fahren in der Ebene scheinbar einen Widerspruch darstellt. Doch dem ist nicht so: Beim ebenfalls von Scania entwickelten Getriebe, das bei MAN als Tipmatic 14.33 auftritt, handelt es sich zwar formal um eine Overdrive-Ausführung, Hauptfahrgang ist aber der direkte übersetzte 13. Gang. Nach Schweden-Lesart ist deshalb auch von einem Zwölfganggetriebe plus Crawler und Overdrive die Rede, im MAN werden die Gänge aber kurzerhand von 1 bis 14 durchgezählt.
Wobei: Am Lenkrad erkennbar bleibt die Zählweise neuerdings nur, wenn die Ganganzeige im Display auf Wunsch einprogrammiert wird. Ansonsten bleibt stur das „D“ eingeplendet, und als Fahrer soll man sich über den eingelegten Gang vorzugsweise keine Gedanken machen. Die Neuerung kam bereits in der „Vor-Scania-Zeit“ im Frühjahr 2024 mit dem neuen System „Predictive Drive“, über das auch der Testwagen verfügt: Beim Fahren mit oder auch ohne Tempomat wird damit in die Fahr- und Schaltstrategie auch das Verbrauchskennfeld des Motors einbezogen.
Das System bewertet die Strecke bis zu einem Horizont von 3.000 Meter kontinuierlich bezüglich Verbrauch und Geschwindigkeit, verbunden mit der Prämisse, Schaltungen im Berg weitgehend zu vermeiden. Stattdessen schaltet der Rechner je nach Bedarf frühzeitig runter und/oder geht mit höherem Tempo in den Berg, lässt bis zur Kuppe lange ziehen und passt dafür, falls notwendig, auch das Drehmoment an. Als cleveres Detail spielt die radargestützte Nahbereichsüberwachung auf der Beifahrerseite ebenfalls eine Rolle: Erkennt das System einen Überholvorgang, wird auf ein Momentenlimit verzichtet. Dass das Ganze nicht nur theoretisch funktioniert, hat sich auf der Testrunde an mehreren Stellen auch praktisch gezeigt.
Eine (noch) vorliegende Schwäche des Predictive Drive zeigt sich aber ebenfalls mehrfach: Mit dem erwähnten Horizont von 3.000 Metern kommt das System mit kurzen und knackigen Stichen deutlich besser klar, als mit langen, gleichförmigen Steigungen. Beispielhaft der zehn Kilomger lange Fünfprozenter nach dem Dreieck Moseltal: Hier wirft das System erst nach rund der halben Distanz bei nur noch 54 km/h (indiskutabel für 560 PS) mit der nächsten Schaltung den Rettungsanker.
Automatisch deaktiviert wird Predictive Drive bei getretenem Kickdown, starken Beibremsungen, manuellen Schalteingriffen (für die Dauer des Eingriffs) und im manuellen Modus (dann dauerhaft). Die übrigen voreinstellbaren Fahrmodi, unabhängig von Predictive Drive: Rangiermodus (auch mit neuer Kriechfunktion, für Langsamfahrt vorwärts und rückwärts allein mit dem Bremspedal), Efficiency Plus (eingeschränkte manuelle Eingriffe, dynamische Drehmomentanpassung, kein Kickdown), Efficiency (jederzeit manuelle Gangwahl, Kickdown) und Performance (nach oben versetzte Schaltpunkte, Fokus auf Beschleunigung und Geschwindigkeit, Predictive Drive nicht verfügbar).
Weitere Charakteristika sind ein dynamisches Segeln, das auf nahezu ebener Strecke einen stetigen Wechsel von Gasgeben und Rollenlassen im Bereich von rund 2 bis 3 km/h bewirkt (auf der Testrunde aber erfreulich sparsam und wenig störend im Eingriff) sowie vier feste Eco-Stufen von +/- 9 bis +5/-3 km/h. Abweichende Einstellungen lassen sich in der Werkstatt vornehmen, so dankbarerweise auch für die Testfahrt mit der üblichen Vorgabe 85 +/- 5 km/h. Apropos: Absolut sympathisch ist es, dass MAN auf irgendwelche „Dips“ beim Auslauf von Gefällstrecken verzichtet. Den Bremstempomat auf 90 gesetzt, bleibt es auch dabei. Also anders als bei diversen anderen Marken, beispielsweise Volvo und Scania, die die Fuhre bis zu 45 Sekunden lang 2 bis 3 km/h über Setzgeschwindigkeit laufen lassen – spätestens bei einem Blitzer am Wegesrand nur eingeschränkt empfehlenswert.
Nicht nur bei der Schaltlogik, auch bei der Triebstrangauslegung verfolgt MAN eine andere Strategie als die Konzernkollegen aus Södertälje. So ist die 2,53er Hinterachse relativ kurz übersetzt – erst recht für einen 560-PS-Motor mit stolzen 2.800 Nm Drehmoment. Im direkt übersetzten 13. Gang dreht die Maschine damit 1.160 Touren, wogegen der Trend heutzutage eher in Richtung 1.000 geht. Zum Vergleich: Zwei vorherige Testwagen der Münchener, jeweils noch mit D26-Motor und ZF Traxon-Getriebe, kamen mit 2,31er Achse bei Tempo 85 mit 1.060/min auf exakt 100 Umdrehungen weniger.
Der Grund liegt im Overdrive, der den MAN-Strategen nun zur Verfügung steht, und den sie in Flachstücken und minimalen Gefällen rege nutzen: Dann sackt die Nadel im Drehzahlmesser auf nur noch knapp 910 Umdrehungen, was sich von Vibrationen und Geräuschkulisse her gerade noch vertreten lässt. Mit besagter 2,31er Achse, der bisherige Favorit in TGX-Sattelzugmaschinen für den Fernverkehr, wären es nur rund 825 Touren, wo der D30 schon eher Richtung Schiffsdiesel rumort – praktisch erfahren in einem Scania 500 S mit einer ebensolchen 2,31er Achse. Die Konsequenz seinerzeit: Die Schweden nutzten den Overdrive sehr viel seltener, als das nun bei MAN der Fall ist.
So oder so reihen sich die Münchener mit dem aktuellen Testwagen in den elitären Club derer ein, die beim Dieselverbrauch auf der anspruchsvollen Teststrecke mit knapp 40 Tonnen Gesamtgewicht unter der 31-Liter-Marke bleiben – und zwar mit durchschnittlich 30,6 Litern auf Augenhöhe mit dem erwähnten Scania 500 S sowie einem DAF XG+ 480. Was die Traton-Konzernkollegen eint, ist ein fast doppelt so hoher AdBlue-Verbrauch wie der Niederländer, dafür aber gepaart mit höherer Durchschnittsgeschwindigkeit. Wobei der MAN mit dem Ausmerzen der erwähnten Kinderkrankheiten des Predictive Drive sicher noch an Tempo zulegen könnte. So aber stellt sich leider häufiger das Gefühl ein, zwar die „560“ an der Tür stehen zu haben, aber nicht wirklich mit den entsprechenden PS unterwegs zu sein – und das Trotz Testfahrt im Efficiency- statt des noch weniger lebhaften Efficiency-Plus-Programms.
Gegenüber einem anno 2022 getesteten TGX 18.510 GX mit D26-Motor, ZF-Getriebe und -Retarder zeigt sich ein erstaunlicher Gewichts-Zuwachs von gut vier Zentnern. Bei weitgehend vergleichbarer Ausstattung geht das Mehrgewicht aber nur teilweise auf den D30-Triebstrang mitsamt Scania-Getriebe und -Retarder: Zur Aufnahme des neuen Triebstrangs sind auch einige Chassis-Modifikationen notwendig, allen voran ein vorn gespreizter Rahmen. Beim Fahrverhalten ist davon im Vergleich zum D26-Triebstrang wenig zu spüren: Handling und Lenkung (elektrisch unterstützt mit aktivem Spurwächter) sind einwandfrei, das blatt-/luftgefederte Chassis (mit Einblatt-gefederter 8,5-Tonnen-Vorderachse) und die Vier-Punkt-luftgefederte Kabine gut aufeinander abgestimmt.
Wie gehabt präsentiert sich das GX-Haus, das mit über zwei Meter Stehhöhe das Maximum im MAN-Programm markiert und nach einigen Evolutionsschritten (komplett spiegelloses Kamera-Monitor-System, aerodynamische Feinarbeiten) einen hohen Reifegrad erreicht hat. Erhältlich ist ein neues, dunkleres Innendekor namens „Dark Moon Grey“ (so auch im Testwagen) und ein sachtes Update gab es für die Instrumente: Tacho und Drehzahlmesser am linken und rechten Rand sind nicht mehr als strikte Halbkreise gestaltet, sondern in zackiger „J“-Form mit mehr Platz für Fahrzeuginfos dazwischen.
Die Gerüchteküche bleibt derweil ebenfalls nicht kalt. So ist einerseits von neuen Traton-Einheitsfahrerhäusern für MAN und Scania die Rede (womöglich im Zusammenhang mit aerodynamisch begründeter Zusatzlänge), andererseits von einem Mehr an Markenidentität: Mit einem alternativ zum D30 doch noch für Euro 7 beziehungsweise EPA 2027 weiterentwickelten MAN D26 (dann vermutlich auch wieder für US-Kunden der Traton-Konzernmarke International, wo der Münchener Motor in der Vergangenheit schon Dienst geschoben hat).
Das aber bleibt Zukunftsmusik. Fakt ist derweil: Beim reinen Dieselverbrauch haben die Münchener zu den derzeit Besten der Zunft aufgeschlossen. Der neue Herzschlag passt für´s erste.
Weitere Informationen:
MAN auf der IAA: Diesel, Strom und Wasserstoff (22.07.24)
MAN Modelljahr 2024: Vorausschauende Maßnahmen (24.04.2024)
Experten-Test MAN TGX 18.480 GM: Nochmals optimiert (01.11.22)
Experten-Test Scania 500 S: Ausrufe-Zeichen! (01.04.22)
Experten-Test MAN TGX 18.510 GX: Kaum Schwächen, viele Stärken (01.04.22)
Dieselverbrauch | l/100 km |
Gesamte Strecke: | 30,6 |
Schwere Teilstücke: | 34,6 |
Leichte Teilstücke: | 26,6 |
Volllast (5 % Steigung): | 84,5 |
Teillast (bei 85 km/h): | 19,6 |
Geschwindigkeit | km/h |
Gesamte Strecke: | 83,5 |
Schwere Teilstücke: | 82,2 |
Leichte Teilstücke: | 84,8 |
Volllast (5 % Steigung): | 69,6 |
AdBlue (l/100 km): | 3,44 (11,10 % vom Diesel) |
steigungsbedingte Schaltungen: | 11 (ohne Schaltungen vom Overdrive zurück in den 13. Gang) |
Innengeräusch Ebene (85 km/h): | 65,4 dB(A) |
Innengeräusch max. (Steigung): | 66,7 dB(A) |
Fahrgestell/Gewicht | |
Bereifung vorn/hinten: | 385/55 R 22,5 / 315/70 R 22,5 |
Reserverad j/n: | n |
Tankgröße Diesel: | 490 Liter |
Tankgroße AdBlue: | 80 Liter |
Federung: | Ein-Blatt-Parabel-/Vier-Balg-Luft |
Rahmenstärke: | k.A. |
Radstand: | 3.600 mm |
Retarder j/n: | j |
Leergewicht vollgetankt, mit Fahrer: | 7.725 kg |
Testgewicht: | 39.600 kg |
Motor | |
Reihensechszylinder (MAN D3066 LF10), zweistufiger Turbolader mit Ladeluftkühlung, einteiliger Zylinderkopf, zwei obenliegende Nockenwellen, vier Ventile pro Zylinder, Common-Rail-Hochdruckeinspritzung XPI | |
Abgasnorm: | Euro 6e |
SCR j/n: | j |
AGR j/n: | n |
Bohrung: | 130 mm |
Hub: | 160 mm |
Hubraum: | 12.742 ccm |
Leistung: | 412 kW (560 PS) bei 1.800/min |
Max. Drehmoment: | 2.800 Nm bei 900 bis 1.350/min |
Motorbremse: | 354 kW bei 2.400/min |
Getriebe/Achse | |
MAN Tipmatic 14.33 (Scania G33CM), automatisiertes Zwölfganggetriebe mit Crawler und zusätzlichem Overdrive (in Summe 14 Gänge), Direktgangausführung, 4 Rückwärtsgänge, Übersetzung 20,81 bis 0,78 | |
Übersetzung HA: | 2,53 |
U/min bei 85 km/h (13. Gang/Overdrive): | 1162 |
Fahrerhaus | |
MAN TGX GX, Vier-Punkt-Luftfederung | |
Außenbreite/-länge: | 2.440/2.280 mm |
Einstiegsstufen: | 3 |
Einstiegshöhe: | 1.525 mm |
Scheibe/Rückwand: | 2.110 mm |
Innenhöhe vor Sitz: | 2.130 mm |
Innenhöhe Mitte: | 2.000 mm |
Höhe Motortunnel: | 90 mm |
Liege unten (B x L): | 700-800 x 2.000 mm |
Liege oben (B x L): | 700 x 2.000 mm |