Leseprobe
Vorstellung Iveco S-eWay: Sturm und Drang
Einen kleinen Seitenhieb auf so manchen Wettbewerber können sich die Iveco-Mannen nicht verkneifen: Der S-eWay sei von Grund auf als Elektro-Fahrzeug konzipiert und eben kein umgebauter S-Way mit ausgebautem Diesel- und eingepflanztem E-Motor. Man darf das getrost auf die vielerorts gekoppelten Elektro-Triebstränge der Konkurrenz beziehen, die mit Antriebsachsen und teilweise sogar Getrieben aus dem Standard-Dieselbaukasten bestückt sind.
Der S-eWay, im Moment nur als 4×2-Sattelzugmaschine lieferbar, tritt dagegen mit einer E-Achse aus dem Konzernverbund an, zugeliefert von Fiat Powertrain (FPT). Charakteristisch sind zwei E-Motoren mit zusammen 480 kW (kurzzeitig in der Spitze 840 kW!) und ein Eingang-Getriebe. Die Lithium-Ionen-Batterien bezieht Iveco bei Proterra, neuerdings ein Tochterunternehmen von Volvo. An der Bezugsquelle könnte sich aber bald etwas ändern – zumindest beim S-eWay als Dreiachs-Motorwagen, den Iveco im Vorfeld des Modelljahrs 2024 angekündigt hat und vermutlich auf der IAA präsentiert. Beim 6×2-Fahrgestell ist von sieben Batteriepaketen mit zusammen 490 kWh die Rede, möglicherweise von einem neuen Zulieferer.
Doch zurück zur S-eWay-Zugmaschine, die mit nur rund 1.400 Kilometer auf der Uhr für eine ausgedehnte Probefahrt bereit steht. Vom Werk in der Nikolaus-Otto-Straße führt die Route über die autobahnähnliche B30 in Richtung Bodensee und über Landstraßen und Ortsdurchfahren, inklusive eines Schwenks über den Ulmer Eselsberg, wieder zurück.
Ein großes Plus der E-Achse, von Verbrauchsvorteilen gegenüber gekoppelten Triebsträngen ganz abgesehen, zeigt sich schon bei der Inspektion des Fahrgestells: Ohne klassisches Getriebe und Kardanwelle bleibt wesentlich mehr Bauraum, und Iveco nutzt den Platz zwischen den Achsen konsequent aus: Je drei kompakte Batteriepakete siedeln links und rechts am Rahmen, drei weitere zwischen den Längsträgern. Auch hier beweist sich das grundlegende Layout als E-Fahrzeug, denn jene Längsträger sind für die Aufnahme der neun quadratisch angeordneten Batteriepakete schmaler ausgeführt als bei den Diesel-S-Way.
Im Resultat kommt Iveco bei der Zweiachs-Zugmaschine auf stattliche 738 kWh (Brutto-)Kapazität bei vier Meter Radstand und Einhaltung von 16,50 Zuglänge mit 13,6-Meter-Auflieger. Jenen hatte Iveco auf knapp 24 Tonnen ausgeladen, was 36 Tonnen Zuggewicht bedeutet. Anders gesagt: Die Zugmaschine allein kommt schon auf 12 Tonnen – neun Batteriepakete à 485 Kilogramm drücken ordentlich auf die Waage. Einen guten und ausgewogenen Eindruck hinterlässt die Abstimmung der Federung: Zur Vier-Punkt-luftgefederten Kabine addieren sich Drei-Blatt-Parabelfedern an der Vorder- und eine Zwei-Balg-Luftfederung an der Hinterachse, was den Serienstandard markiert.
Die E-Achse liefert FPT übrigens auch an den ehemaligen Kooperationspartner Nikola. Zur Erinnerung: Der S-eWay und die Brennstoffzellen-Variante S-eWay Fuel Cell wurden ursprünglich im Joint Venture Nikola Iveco Europe entwickelt. Das Gemeinschaftsunternehmen ist Geschichte, seit Sommer 2023 entstehen die schweren BEV und FCEV bei der Iveco-Tochter EVCO (Electric Vehicles Company). Nikola baut derweil in den USA Brennstoffzellen-Lkw und bezieht dafür weiterhin Fahrerhäuser und E-Achsen von Iveco beziehungsweise FPT. Es gibt auch andere Reminiszenzen an die Zusammenarbeit: Bei gekipptem Fahrerhaus ist auf einzelnen Elektronikkomponenten noch der Nikola-Schriftzug zu sehen.
Die Produktion läuft am Ulmer Standort in einer separaten Halle, die Iveco 2019/2020 komplett entkernt und für die Elektro-Fabrikation neu ausgebaut hat. Die Fertigung lief dann noch in 2020 an: zunächst mit Prototypen, inzwischen also mit Serienfahrzeugen (der S-eWay Fuell Cell mit Brennstoffzelle soll im zweiten Halbjahr 2024 folgen). Die jährliche Kapazität bei voller Auslastung im Drei-Schicht-Betrieb beziffert Iveco mit 3.000 Einheiten.
Dass im Jahr 2024 bis Anfang Juni nur 40 S-eWay gebaut wurden (alle noch mit Fördermitteln und entsprechender Leasingrate), hat auch mit der ab Juli geltenden General Safety Regulation (GSR) zu tun: Die Umstellung auf das Modelljahr 2024 gestaltete sich fließend, auch der Testwagen ist noch auf dem Stand des Modelljahrs 2023 – und vor dem Stichtag im Juli wollte Iveco verständlicherweise nicht auf Halde produzieren. S-eWay, die jetzt bestellt werden, entsprechen natürlich den neuen GSR-Vorgaben. Den Absatz zusätzlich ankurbeln sollen zahlreiche Unterstützungsmaßnahmen bis hin zur „All-Inclusive-Pay-per-Use-Formel“ für die Langzeitmiete im Rahmen des GATE-Programms (Green & Advanced Transport Ecosystem).
Am Arbeitsplatz der bekannten „Active Space“-Kabine prangt zwar schon das erneuerte Markenlogo auf dem Lenkrad, dessen Verstellbereich fällt aber vergleichsweise mager aus – an dieser Stelle hat Iveco mit dem Modelljahr 2024 deutlich nachgebessert. Statt der konventionellen Spiegel markiert künftig auch ein Kamera-Monitor-System den Stand der Dinge. Nebenbei bemerkt: Wenn man, wie der Autor dieser Zeilen, zuletzt fast nur noch „spiegelfrei“ unterwegs war, sei es im Volvo FH Aero, Mercedes eActros oder MAN TGX, merkt man bei solcher Gelegenheit erst so richtig, wie sehr man sich schon daran gewöhnt hat. Vor allem betrifft das die freie Sicht nach schräg vorne links und rechts, wo am derzeitigen S-eWay die wuchtigen Spiegelgehäuse das Sichtfeld einschränken. Aber, wie gesagt: Die S-Way und S-eWay des Modelljahrs 2024 ziehen in Sachen Kamera-Monitor gleich. Zusätzlich zu weiteren, teils serienmäßigen Assistenzsystemen wird es statt des passiven Spurwächters auch eine aktive Spurrückführung geben – ob mit elektrohydraulischer oder vollelektrischer Lenkung lässt Iveco noch offen.
Beim Laden belässt es Iveco gegenwärtig beim CCS2-Standard mit bis zu 350 kW, zusätzliches Megawatt-Laden ist noch kein Thema. Immerhin ist die Ladebuchse hinter dem fahrerseitigen Sideflap günstig platziert: Auch wenn eine Ladesäule stirnseitig angefahren werden muss, sollte die Kabellänge reichen. Was Iveco noch nachrüsten sollte, ist ein elektrischer und/oder elektrisch-mechanischer Nebenantrieb, an dieser Stelle muss die S-eWay-Zugmaschine noch passen.
Modelljahr 2024 hin oder her, mit großen Displays und volldigitalen Instrumenten hat sich der S-eWay von Anfang an von seinen Dieselkollegen unterschieden. Beeindruckend ist das Sekundärdisplay im veritablen Fernseher-Format mit 17 Zoll (43 Zentimeter) Bildschirmdiagonale. Auf dem riesigen Touchscreen für Infotainment, Lkw-Navi und Fahrzeugfunktionen ist vor der Abfahrt auch der PIN Code zum Entsperren des Fahrzeugs einzugeben. Gestartet wird dann auf Knopfdruck; einen Zündschlüssel gibt es nicht mehr, und die Parkbremse ist elektronisch ausgeführt. Mit einem ersten kurzen Knopfdruck fahren die Systeme hoch, mit längerem Druck (und getretener Bremse) ist der Antrieb bereit. Die obligatorischen D-N-R-Tasten sitzen rechterhand in der Armatur, danach geht es erstaunlich einfach zu: Es gibt keine wählbaren Fahrprogramme à la Economy, Range und Power bei einem eActros 600, und es gibt auch keinen Kickdown (runterschalten ist mit dem Einganggetriebe sowieso nicht drin, aber es wäre ja ein elektronisch angesteuerter Boost denkbar).
Man fährt also mit Einganggetriebe in einem einzigen Fahrmodus, und ohne jegliche Gangwechsel fühlt sich das Ganze endgültig wie am Gummiband gezogen an. In Kombination dazu wäre ein stufenloses Rekuperationspedal wie in den E-Lkw von Designwerk denkbar (die zwar mit gekoppeltem Triebstrang, aber ebenfalls mit Einganggetriebe unterwegs sind), aber Iveco bleibt in dieser Hinsicht traditionell: Gebremst/rekuperiert wird mit dem gleichen sechsstufigen Lenksäulenhebel, der in den Diesel die Leistung von Motorbremse und Retarder dosiert. Die Logik ist einfach: In der Nullstellung wird beim Lösen des Gaspedals frei gerollt, in den folgenden sechs Stufen entsprechend verzögert. Das freie Rollen geht spürbar leichter als mit gekoppeltem Triebstrang, und Bremswirkung ist fast bis zum Stillstand da, nur auf den letzten Metern braucht es die Scheibenbremsen.
Die maximale Verzögerungsleistung liegt im Bereich von 450 kW – so zumindest die Klartext-Anzeige in Stufe Sechs vor einer (fast verpassten) Abfahrt. Lässt man beim Fahren mit Gaspedal den Retarderhebel auf der höchsten Stufe, hat man quasi einen Ein-Pedal-Modus – wirklich empfehlenswert aber allenfalls im Stadtverkehr. Was den Wert von 450 kW anbelangt: Der S-eWay liegt damit ungefähr in der Größenordnung der verstärkten Motorbremse (Turbobrake) beim 12,8-Liter-Motor Cursor 13 (der künftig durch den Vielstoffmotor XC13 für fossilen und regenerativen Diesel, (Bio-)Methan und Wasserstoff abgelöst wird – dies die weiteren Zukunftswege, die Iveco neben der Batterie- und Brennstoffzellen-Elektrik verfolgt).
Die erwähnte Leistungsanzeige ist im digitalen 12,8-Zoll-Fahrerdisplay rechts vom Tacho abzulesen, wobei der Wert bei Leistungsaufnahme ins Negative wechselt. Das ist ebenso schlicht, wie logisch, was auch für die Instrumente in ihrer Gesamtheit gilt: Mittig das Tempo, rechts davon besagte Leistungsanzeige und das eingelegte Rekuperationslevel (beziehungsweise „Off“ in Nullstellung), links der Batteriestatus in Prozent und die Restreichweite. Es gibt darüber hinaus auch keine abweichenden Ansichten, zwischen denen man wechseln könnte. Trip-Daten sind im zentralen Display ebenfalls nicht abrufbar, aber an dieser Stelle hilft die Telematik und eine ausführliche Auswertung im Sekundärdisplay aus (auch grafisch aufbereitet für bis zu drei Trips A, B und C).
Leider ebenfalls schlicht: Einen vorausschauenden Tempomat hat Iveco dem S-eWay noch nicht eingeimpft. An dieser Stelle ist sicherlich Entwicklungspotential für eine günstigere Energiebilanz vorhanden. Positiv betrachtet, erübrigt sich mit einem einzigen Fahrmodus jede Taktiererei mit irgendwelchen Ökonomie-, Reichweiten- oder Powerprogrammen. Man fährt einfach, tritt mehr oder weniger stark auf´s Gas und ist angenehm überrascht, wenn beim Überholen oder am Fuß einer Steigung mit einem beherzten Tritt die Post abgeht. Auf der Probefahrt an einer T-Kreuzung eine knappe Lücke genutzt, und schon haut ob der heftigen Leistungsentfaltung beim Abbiegen das ESP rein. Der kräftige Vortrieb macht schon Laune, man kann´s nicht anders sagen. Wohlgemerkt: mit knapp 36 Tonnen Zuggewicht!
Wie sich derlei Sturm und Drang auf den Stromverbrauch auswirkt, wird bei einem Verbrauchstest auf definierter Strecke spannend zu sehen sein. Iveco selbst macht eine – auf den ersten Blick – vorsichtige Rechnung auf: Von den 738 kWh Batteriekapazität seien rund 85 Prozent nutzbar, also zirka 625 kWh, die wiederum bis zu 500 Kilometer Reichweite ermöglichen sollen. Nach Adam Riese wären das 125 kWh auf 100 Kilometer, was nach allen bisherigen E-Fahrzeug-Erfahrungen realistisch erscheint. Auch Daimler Truck spricht beim eActros 600 mit rund 600 kWh nutzbarer Batteriekapazität von 500 Kilometern Reichweite und konnte das im Truckexperten-Test bereits unter Beweis stellen – ebenfalls mit E-Achse, aber mit vierstufigem Getriebe, windschnittiger Pro Cabin und trickreicher Software mit mehreren Fahrprogrammen und vorausschauendem Tempomat. Die Messlatte für den S-eWay ist also gelegt.
Elektroantrieb | |
Bauart | zwei flüssigkeitsgekühlte Permanent-Magnet-Motoren |
Leistung Dauer-/Spitzenbetrieb | 2 x 240 kW / 2 x 420 kW |
Drehmoment Dauer-/Spitzenbetrieb | 2 x 410 Nm / 2 x 900 Nm |
Nebenantrieb | – |
Batterien | |
Art/Anzahl | Lithium-Ionen/9 |
Kapazität | 738 kWh (nutzbar: ca. 625 kWh (85 %)) |
Reichweite (Herstellerangabe) | rund 500 km |
Ladeverfahren | CCS2 bis 350 kW |
Triebstrang | |
Kraftübertragung und Bereifung | Elektrische Starrachse mit zwei integrierten Elektromotoren (FPT eAX 840-R, Gewicht: ca. 1.360 kg), Eingang-Getriebe, bis 45.180 Nm am Rad; Differentialsperre; Bereifung vorn/hinten: 385/55 R 22,5 / 315/70 R 22,5 |
Fahrgestell | |
Rahmen, Federung, Lenkung | U-Profil-Leiterrahmen, 6,7 mm stark; Federung: 3-Blatt-Parabel/Zwei-Balg-Luft; konventionelle Hydrolenkung |
Radstand | 4.021 mm |
Achslasten (techn.) | 9.000/13.000 kg |
Leergewicht (ohne Fahrer) | 11.970 kg |
Testgewicht (ohne Fahrer) | 35.700 kg |
Aufsattelhöhe: | 1.198 mm |
Fahrerhaus | |
Modell | S-Way Active Space, Vier-Punkt-Luftfederung, zwei Betten, zwei Kühlschränke unter der Liege |
Innenhöhe Mitte | 2.085 mm |
Innenhöhe vor Sitz | 2.150 mm |
Frontscheibe bis Rückwand | 2.070 mm |
Höhe Motortunnel | 95 mm |
Einstiegsstufen | 3 |
Einstiegshöhe | 1.470 mm |
Varianten | |
Konfigurationen | 4×2-Sattelzugmaschine, ab 2025 auch 6×2-Fahrgestell |
Fahrerhäuser | Iveco S-Way Active Space |
Batteriepakete | 9 Packs Lithium-Ionen-Batterien à 82 kWh an der 4×2 Szm, voraussichtlich 7 Packs am 6×2-Fgst. |