Experten-Test Iveco Stralis NP: Aufbruchstimmung
Seit Wochen und Monaten scheint es rund um den Iveco Stralis nur ein Thema zu geben: Gas, Gas und nochmal Gas. Die Kommunikationsabteilungen in Turin und München feuern aus allen Rohren, und zuletzt konnten sie ihr Glück wohl kaum fassen: Mit der ziemlich kurzfristig beschlossenen Mautbefreiung für Gas-Lkw auf deutschen Autobahnen und Landstraßen spielte die Bundesregierung den Italienern prächtig in die Karten: Die Investition in den alternativen Antrieb wird damit so attraktiv wie noch nie und die Serienfertigung der Stralis NP im Werk Madrid dürfte neue Höhen erklimmen.
Da trifft es sich auch hervorragend, dass Iveco im Spätsommer als erster Hersteller den Mut aufbrachte, eine Gas-Sattelzugmaschine zum Test zur Verfügung zu stellen. Heißt: mit knapp 40 Tonnen auf die Verbrauchsmessstrecke. Zwar macht Iveco keinen Hehl daraus, dass als regelmäßige Transportgewichte für den Stralis NP eher 32 Tonnen die Obergrenze bilden sollten, aber zum Siegel des „fernverkehrstauglichen Gas-Lkw“ gehört nun mal auch der Einsatz als 40-Tonner beziehungsweise 44-Tonner im Kombiverkehr. Folgerichtig tritt der Testwagen unter der üblichen Iveco-Typenbezeichnung AS 440 S 46 T/P NP zum Test an, wobei die „440“ für 44 Tonnen zulässiges Gesamtgewicht und die „46“ für 460 PS stehen. Die Ziffern beziehen sich auf das große Active Space-Fahrerhaus, die Baureihe Stralis, ein blatt-/luftgefedertes Fahrgestell und schließlich die Version „Natural Power“.
Der Cursor 13 NG ist mit 460 PS aus 12,9 Liter Hubraum hierzulande momentan der leistungsstärkste Lkw-Gasmotor, kann mit 2.000 Nm Drehmoment von 1.100 bis 1.600 Umdrehungen kräftemäßig aber nicht ganz mit den Dieselkollegen mithalten. Die 410er und 450er Cursor 13 aus Stralis X-Way und Trakker bringen es beispielsweise auf 2.100 beziehungsweise 2.200 Nm, und das schon ab 900 beziehungsweise 970 Umdrehungen. Naturgemäß will der Gas-(Otto-)Motor bei insgesamt höheren Drehzahlen gefahren sein, was sich auch im Testwagen ablesen lässt: Mit knapp 1.200 Touren rollt der 460er Stralis NP bei 85 km/h über die Autobahn, bei den Diesel-Stralis sind es mit der Standardübersetzung 2,47 zu Eins dagegen nur rund 1.130 Umdrehungen. Und: Das höhere Drehzahlniveau erreicht der NP in der ungewöhnlichen Kombination aus drastisch kürzerer Achse und Overdrive-Getriebe.
Auf die Kombination aus Overdrive mit automatisiertem ZF Traxon-Getriebe und kurzer Achse (3,36 mit 315/70er, 3,70 mit 315/80er Reifen) setzen die Italiener vor allem mit Blick auf die Dauerbremsleistung. Da der Retarder den Job praktisch alleine erledigen muss – der Gasmotor kommt auf kein nennenswertes Schleppmoment, geschweige denn Motobremsleistung – ist die kurze Achse vor allem in niedrigen Geschwindigkeitsbereichen hinsichtlich Retarderleistung von Vorteil. Um mit Blick auf den Verbrauch die Drehzahl bei Autobahntempo zu senken, muss dann eben der Overdrive her. Die Reibungsverluste durch die zusätzliche Zahnradpaarung sieht Iveco als vernachlässigbar an, die Größenordnung nach der Warmlaufphase liege bei unter einem kW (bei kaltem Getriebeöl allerdings etwas mehr).
Vom modifizierten Bremsenmanagement bekommt der Fahrer letztlich relativ wenig mit, denn im Gas- wie im Dieselfahrzeug lässt der Dauerbremshebel sechs Abstufungen zu. Der Unterschied: Beim Diesel bremst in der ersten Stellung die Motorbremse, dann folgen fünf Retarderstufen à 20 Prozent, beim LNG stehen die sechs Stufen für jeweils rund 16 Prozent der maximal verfügbaren Retarderleistung.
Mit 43 steigungsbedingten Schaltungen hat das Traxon-Getriebe auf der Testrunde gut zu tun: Selbst ein länger übersetzter Stralis 460 mit kleinem 11,1-Liter-Motor kam einige Wochen zuvor nur auf 32. Doch auch wenn häufiger als sonst am Berg der neunte Gang herhalten muss, liegt das Durchschnittstempo am Ende auf klassenüblichem Niveau – ein Verkehrshindernis ist der 460er NP also auch mit 40 Tonnen keineswegs. Fahrkomfort und Fahrverhalten stehen den Diesel-Stralis ebenfalls nicht nach, im Gegenteil: Mit nur 63,2 dB(A), gemessen auf Kopfhöhe, ist es auf der flachen Autobahn ein gutes Stück leiser. Die insgesamt straffer abgestimmte Federung des Testwagens ist zudem nicht NP-spezifisch, sondern lediglich der ungewohnten Wahl einer mechanischen Fahrerhauslagerung mit Schraubenfedern und Dämpfern geschuldet.
Beim Thema Kraftstoff liegt der Fall nicht ganz so klar. Der Durchschnittsverbrauch von 32,2 kg LNG entspricht volumenmäßig 76 Liter LNG und vom Energiegehalt her knapp 43 Liter Diesel. Das klingt im ersten Moment viel (üblich sind in der 460-PS-Klasse auf der schweren Teststrecke rund 33 bis 35 Liter Diesel), aber auch als LNG ist Erdgas deutlich günstiger als Diesel. Shell Deutschland zum Beispiel spricht bei der Gestaltung des Listenpreises von einem relativ konstanten Preisvorteil von einem Kilogramm LNG zu einem Liter Diesel von zirka 11 Cent (brutto). Außerdem werden bei den Euro-6-Selbstzündern je nach AGR-/SCR-Einsatz zusätzlich noch ein bis drei Liter AdBlue fällig. Der Stralis NP dagegen kommt für Euro 6 ausschließlich mit einem Drei-Wege-Katalysator aus.
Das Traxon-Getriebe arbeitet im Stralis NP mit allen gewohnten Features, also mit vorausschauendem Tempomaten und Ecoroll-Freilauf. Jener ist Iveco-typisch auch beim LNG-Fahrzeug mit oder ohne Tempomat ab 55 km/h aktiv, wird insgesamt aber eher sparsam eingesetzt. Aufbauend auf den Grundmotor des Cursor 13 wird die Methan-Variante vor allem durch die seitlichen Gasinjektoren, den Zylinderkopf mit Zündkerzen sowie die hinsichtlich heißerer Verbrennung modifizierten Kolben und Laufbuchsen charakterisiert. Im Gegensatz zum Dieselmotor kommt zudem statt des Laders mit variabler Geometrie ein normaler Wastegate-Turbolader zum Einsatz. Und schlussendlich wird auch der beim Erstversuch noch ziemlich respekteinflößende Tankvorgang mit dem Stralis NP schnell zur Routine.
Ansonsten sind abgesehen von den Tanks und den angepassten Anzeigen im Display nur wenige Gas-spezifische Eigenarten auszumachen. Das momentan noch etwas provisorisch anmutende Auspuff-Design wird wohl in Kürze überarbeitet, aerodynamische Seitenverkleidungen für die NP-Modelle sind ebenfalls im Gespräch. Bei den schmalen Tritten für den Heckaufstieg wird es dagegen wohl bleiben, hier lässt nun mal der Fokus auf maximales Tankvolumen nur wenig Spielraum. Die angebauten Tanks mit jeweils 540 Liter Nennvolumen und 318 Kilogramm Leergewicht stammen von der Chart Ferox a.s. in Tschechien, einem Tochterunternehmen von US-Hersteller Chart Industries. Ein cleveres Detail ist die Schutzkappe vor den Anschlüssen, die Verschmutzungen vorbeugt und mit einem Sicherheitssensor versehen ist: Mit offener Kappe lässt sich der Motor nicht starten.
Generell bietet Iveco LNG-Tanks mit 250, 400 und 540 Nennvolumen an, wobei vier Konfigurationen möglich sind – die beiden 540-Liter-Tanks für insgesamt 457 Kilogramm LNG sind das Maximum. Entsprechend hoch liegt das Leergewicht des Testwagens: Vollgetankt kratzt der Stralis 460 NP mit 7.950 Kilogramm schon an der Acht-Tonnen-Marke. Als Sonderlösung bietet Iveco übrigens auch CNG- und LNG-Tanks an ein und demselben Fahrzeug an. Anderweitig ist ebenfalls Flexibilität geboten: Mit dem Gasmotor sind inzwischen auch Low Deck- und ADR-Ausführungen zu bekommen, ebenso Konfigurationen mit Öltank für die Hydraulik von beispielsweise Kipp- oder Schubbodenaufliegern. Kurzum: Der erhoffte Kundenansturm auf die Erdgas-Stralis kann kommen.
Gut fürs Image sind CNG- oder LNG-Lkw allemal: Von allen fossilen Energieträgern weist Erdgas, das je nach Lagerstätte zu fast 100 Prozent aus Methan besteht, die günstigste CO2-Bilanz auf. Zudem wird der Ausstoß von Schwefeldioxid, Kohlenmonoxid, Ruß- und anderen Partikeln auf ein Minimum reduziert. Mit Methan aus regenerativen Quellen (Power-to-Gas, Deponie- oder Biogas) lässt sich der CO2-Ausstoß in der Gesamtbilanz sogar fast auf Null fahren. Soweit die nüchternen Fakten. Was den Aufpreis von schweren LNG-Lkw angeht, gibt es dagegen kaum klare Ansagen. Bei Iveco ist hinter vorgehaltener Hand von etwa 30.000 bis 40.000 Euro die Rede, Scania spricht von rund 30 Prozent Zuschlag auf den Diesel-Listenpreis – was bei Grundpreisen um 100.000 Euro in eine ähnliche Richtung geht. Mit möglichen staatlichen Zuschüssen von 8.000 Euro für CNG- und 12.000 für LNG-Lkw sowie der Mautbefreiung ab Januar 2019 ist die Finanzierungslücke aber schnell geschlossen. So bleiben zum Beispiel bei 100.000 Kilometern auf mautpflichtigen Straßen und einer Gesamtbelastung von 18,7 ct/km (fünf Achsen, Euro 6) am Jahresende satte 18.700 Euro mehr in der Kasse. Allerdings sollten Interessenten wenn, dann schnell auf diesen Zug aufspringen: Die komplette Mautbefreiung gilt vorerst nur bis Ende 2020. Danach fällt zwar weiterhin die Luftverschmutzungsabgabe in Höhe von 1,1 ct/km weg, aber die richtig satten Einsparungen winken eben nur in der Pionierphase.
TECHNISCHE DATEN
MOTOR
Wassergekühlter Sechszylinder-Methan-Reihenmotor (Cursor 13 NG F3H), oben liegende Nockenwelle, vier Ventile pro Zylinder, Turbolader mit elektronisch geregeltem Wastegate-Ventil, Ladeluftkühlung, stöchiometrische Verbrennung mit Drei-Wege-Katalysator und Lambdasonde, Multipoint-Einspritzung mit Niederdruck-Common-Rail; Euro 6
Bohrung/Hub 135/150 mm
Hubraum 12.880 cm3
Verdichtung 12 : 1
Nennleistung 338 kW (460 PS) bei 1.600 bis 1.900/min
Maximales Drehmoment 2.000 Nm bei 1.100 bis 1.600/min
Motorgewicht 1.240 kg (trocken)
KRAFTÜBERTRAGUNG
Kupplung: automatisierte Einscheiben-Trockenkupplung (elektropneumatische Regelung), 430 mm Durchmesser
Getriebe: ZF Traxon 12 TX 2010 TO, Dreigang-Grundgetriebe mit Range- und Splitgruppe, 12 Gänge, Overdrive-Ausführung, automatische Schaltung; Intarder
Hinterachse: einfach übersetzte Antriebsachse mit Differenzialsperre, Übersetzung 3,36 zu 1; entsprechend 1.188/min bei 85 km/h und Bereifung 315/70 R 22,5
FAHRGESTELL
Doppelt gekröpfter U-Profil-Leiterrahmen (302,4 x 80,0 x 6,7 mm), 3.790 mm Radstand, Federung vorn/hinten: Ein-Blatt-Parabel/Vier-Balg-Luft, elektronisch geregelte Scheibenbremsen rundum, zwei LNG-Kryotanks à 540 Liter Nennvolumen, Bereifung vorn/hinten: 385/55 R 22,5 / 315/70 R 22,5, ZF Hydrolenkung, 470 mm Lenkraddurchmesser, 4,25 Umdrehungen von Anschlag zu Anschlag; Leergewicht 7.950 kg (ohne Fahrer), Testgewicht 39.750 kg
FAHRERHAUS
Fernverkehrs-Fahrerhaus Stralis Hi-Way, Hochdach mit Spoilerfunktion, mechanisch gefedert, elektrohydraulische Kippvorrichtung, zwei Liegen, Haupt- und Weitwinkelspiegel elektrisch verstell- und heizbar, Frontspiegel beheizt, Zentralverriegelung mit Fernbedienung; weitere Serienausstattung u.a. manuelle Klimaanlage, ISRI-Luxussitz, „Iveconnect“-Mediencenter mit Touchscreen, dimmbare Innenbeleuchtung (rot und weiß), Druckluftanschluss
Außenbreite/-länge 2.490/2.280 mm
Vorderer Überhang 1.410 mm
Höhe Stufen 350/370/290/360 mm
Gesamthöhe Einstieg 1.370 mm
Frontscheibe/Rückwand 2.070 mm
Fenster zu Fenster 2.380 mm
Innenhöhe vor Sitz/auf Motortunnel 2.250/2.000 mm
Höhe Motortunnel 200 mm (flaches Podest)
Liege unten (B × L) 670–800 × 2.200 mm
Liege oben (B × L) 790 × 1.940 mm
