Scania 770 S: Wenn schon, denn schon
Fast zehn Jahre hat es gedauert, nun ist die Krone des stärksten Serien-Lkw zurück in Södertälje: Mit 770 PS übertrumpft der Scania V8 wieder einmal den Erzrivalen Volvo FH16, der Ende 2011 in einer 750-PS-Spitzenversion auf den Markt kam. Der V8 hat aber nicht nur von bisher 730 PS einige Pferdestärken draufgepackt, sondern vor allem beim Drehmoment deutlich zugelegt: 3.700 statt zuvor 3.500 Nm untermauern den Abstand zum FH16 mit „nur“ 3.550 Nm noch viel stärker, als es die paar zusätzlichen PS bei der Nennleistung tun.
Als konstruktive Maßnahmen nennt Scania neue Hard- und Software für die Motorsteuerung, verringerte innere Reibungsverluste, eine neue Hochdruck-Kraftstoffpumpe (die auch den Ölverbrauch reduzieren soll), ein höheres Verdichtungsverhältnis (19,0 statt 17,4 zu Eins) sowie gesteigerte Kompressionsdrücke. Bei Abgasreinigung und Aufladung marschieren nun zudem alle V8 mit 530, 590, 660 und eben 770 PS im Gleichschritt: Die Sonderstellung des 730er mit Abgasrückführung und variablem Turbo ist passé, die Devise heißt jetzt durchgängig „SCR only“ und FGT-Lader mit fester Turbinengeometrie.
Direkt ablesen lässt sich das beim AdBlue: Auf den Diesel bezogen wurden bei einem im Jahr 2017 getesteten 730er 6,5 Prozent AdBlue fällig, beim 770er sind es fast zehn Prozent, was selbst für SCR-only-Verhältnisse einen ausgesprochen hohen Wert darstellt. Im Gegenzug soll der 770er laut Scania den Vorgänger um bis zu drei Prozent beim Diesel unterbieten. Den Beweis müssen wir aber noch schuldig bleiben. Denn während der 730er den Test seinerzeit als Sattelzugmaschine mit Standard-Curtainsider absolvierte, schickten die Schweden diesmal einen sechsachsigen Hängerzug auf Tournee. Aus Sicht von Scania leuchtet der Hintergedanke ein: Daheim wäre der Dreiachser gerade recht, um mit Dolly und Sattelauflieger als Lang-Lkw für 60 Tonnen und mehr zu dienen. Zur Erprobung in Deutschland wurde das Gespann dagegen auf 40 Tonnen ausgeladen. An den 6×2 hatte Scania dafür eine dreiachsige Lafette angehängt – einfach, weil’s besser aussieht: Die angehobene Liftachse dient letztlich nur als Ballast.
Auf Tour ging‘ s schließlich mit rund 25,5 Tonnen schwerem Motorwagen und 14,5 Tonnen schwerem Anhänger. Wenn sich der Verbrauchsvergleich mit dem 730er auch verbietet, sind einige Aspekte dennoch Fakt. Wenig überraschend, liegt das Durchschnittstempo mit jetzt 86,8 zu seinerzeit 85,9 nochmal höher. Und ja, wie immer lautete die Setzgeschwindigkeit im Tempomat 85 km/h. Schneller wird’s unterm Strich einfach deswegen, weil mit dem gewaltigen Motor das Tempo nur an ganz wenigen Steigungen überhaupt mal abfällt und so die mit bis zu 90 km/h hinabgerollten Gefälle den Schnitt letztlich noch erhöhen. Beispielhaft sei nur der zehn Kilometer lange Fünfprozenter nach dem Dreieck Moseltal aufgeführt: Eine Schaltung in den elften Gang, und der Berg existiert für den 770er schlichtweg nicht mehr.
Wobei generell gilt, dass die Getriebesteuerung schon im gefahrenen Standardmodus (vom Powermodus ganz zu schweigen) auf Tempohalten ausgelegt ist. Entsprechend schaltet Opticruise regelmäßig bereits auf den ersten Steigungsmetern runter, obwohl es Scania mit der Triebstrangauslegung nicht übertreibt: Knapp 1.060 Umdrehungen bei 85 km/h kommen in Zeiten, in denen teilweise schon bei mittelstarken Sechszylindern an der 1.000-Touren-Marke gekratzt wird, nicht als allzu lange Übersetzung daher. Dem V8 gelingt dabei zudem das Kunststück, einen kernigen Klang unter Last mit einer insgesamt niedrigen Geräuschkulisse zu verbinden. Neben bemerkt stimmt im 6×2 auch der Komfort: Trotz Vollluftfederung plus luftgefederter Kabine ist die Auslegung nicht übermäßig weich und das Wankverhalten im hohen Haus hält sich in normalen Grenzen.
In einigen Fällen gast der Rechner vor Steigungen sogar leicht an und im Gefälle greift mitunter ein Zusatzschwung von ein bis zwei km/h über das 90-km/h-Limit: Beides ist dem System im Standardmodus fest eingeimpft. Die weiteren Programme, Economy und Power, gehen mit Opticruise standardmäßig einher, erscheinen beim V8 aber fast unnötig. Mit dem gemütlichen Economy-Modus stellt sich die Frage, wofür man überhaupt so ein starkes Auto kauft, und die Power-Funktion dürfte selbst mit 40 Tonnen nur an extrem steilen Stichen ihre Berechtigung haben.
Der Ecoroll-Freilauf wird bei einem sachten Unterschwinger von zwei bis drei km/h sparsam eingesetzt, und auch die übrigen Assistenzsysteme hinterlassen einen ausgewogenen Eindruck. Insbesondere geht die aktive Spurrückführung, bei Scania mit elektrisch unterstützter Lenkung noch recht neu im Programm, erfreulich zurückhaltend zur Sache und „zerrt“ nicht regelrecht am Lenkrad. Etwas gelitten hat die Motorbremse, die beim 730er auf 435 PS kam, beim 770er auf 30 PS weniger. Statt der vergleichsweise schwachen Abgasbremse ist bei Scania aber ohnehin der eigene Retarder erste Wahl, der es in der auskuppelbaren Variante R4100 D auf 4.100 Nm Bremsmoment bringt. Inzwischen bietet Scania sogar eine neue Variante mit 4.700 Nm an (R4700 D), allerdings nur mit dem ebenfalls neuen Getriebe G33CM, das es für den 770er noch nicht gibt. Hier bleibt es vorerst beim bekannten Zwölfgang-Overdrivegetriebe mit zwei Kriech- und zwei Rückwärtsgängen. Es dürfte aber nur eine Frage der Zeit sein, bis Scania beim 770er auch in diesem Punkt nachzieht.
Einen weiteren gemeinsamen Nenner zum Test-730er aus 2017 gibt es beim Fahrerhaus: Über dem V8 thront die große S-Highline-Kabine, mit deren Präsentation im Sommer 2016 auch Scania (neben Mercedes und Renault) die Kombination aus ebenem Kabinenboden ohne Motortunnel und hohem Einstieg einführte. Die Vor- und Nachteile gegenüber dem Vorgänger R Topline haben wir in der Vergangenheit mehrfach beleuchtet, Fakt ist: Das Raumgefühl und die Bewegungsfreiheit auf dem flachen Parkett sind deutlich besser, unterm Bett ist Platz für zwei große Stauboxen, der Beifahrersitz lässt sich drehbar bestellen und die hohe Montage erlaubt zwei zusätzliche Staufächer. Mit der sich nach vorn verjüngenden Fahrerhausbreite bringt Scania zudem das Kunststück fertig, dass der vierstufige Einstieg nicht gar zu steil ausfällt, sondern vielmehr noch leicht treppenförmig. Dass bei der sonstigen Ausstattung des Testwagens so ziemlich alles geboten ist, was das Zubehör hergibt, versteht sich beim ohnehin hochpreisigen Top-V8 fast von selbst – frei nach dem Motto: Wenn schon, denn schon.
Technische Daten
MOTOR
Wassergekühlter VB-Zylinder (Scania DC 16 123) mit FGT-Turbolader (feste Geometrie) und Ladeluftkühlung, Einzelzylinderköpfe, vier Ventile pro Zylinder, Common-Rail-Einspritzung; Euro 6d mit SCR („Twin-Dosing“), Oxi-Kat, Dieselpartikelfilter
Bohrung/Hub 130/154 mm
Hubraum 16.400 cm3
Verdichtung 19 : 1
Nennleistung 566 kW (770 PS) bei 1.800/min
Maximales Drehmoment 3.700 Nm bei 1.000-1.450/min
Motorgewicht ca. 1.410 kg
KRAFTÜBERTRAGUNG
Kupplung: automatisch betätigte Einscheiben-Trockenkupplung, 430 mm Durchmesser
Getriebe: Scania GRSO926R, Dreigang-Grundgetriebe mit Range- und Splitgruppe, 12 + 2 Gänge, Übersetzung 0,80 bis 13,28; 2 Rückwärtsgänge, automatisierte Schaltung (Zwei-Pedal-Opticruise); Fahrmodi: Standard, Economy, Power; Scania-Retarder R4100D mit Freilauffunktion
Hinterachse: Scania R885, einfach übersetzte Hypoidachse mit Differenzialsperre, Übersetzung 2,87 zu 1, entsprechend 1.054/min bei 85 km/h und Bereifung 315/70 R 22,5
FAHRERHAUS
Scania CS20H, Fernverkehrs-Fahrerhaus mit ebenem Boden, einer Liege unten (ausziehbar) und Schrankwand oben, Ganzstahl-Konstruktion mit Hochdach, alle Bleche feuerverzinkt, Vier-Punkt-Luftfederung, vier Außenstaufächer; Ausstattung u.a.: elektrohydraulische Kippvorrichtung mit Kabel-Fernbedienung, elektrische Verstellung aller Spiegel, dimmbare Innenbeleuchtung, Kühlschrank, drehbarer Beifahrersitz, Ledersitze und -lenkrad, Klapptisch im Armaturenbrett (Beifahrerseite), Flachbildfernseher, Klimaautomatik, integrierte Standklimaanlage, Zentralverriegelung mit Fernbedienung
Außenbreite/-länge 2.470/2.280 mm
Vorderer Überstand 1.410 mm
Höhe Stufen 390/315/305/300 mm
Gesamthöhe Einstieg 1.630 mm
Frontscheibe/Rückwand 2.080 mm
Innenhöhe vor Sitz/auf Motortunnel 2.030/2.090 mm
Motortunnel (H x B) –
Liege unten (B x L) 810-960 x 2.190 mm
Liege oben (B x L) – (Staumodul)
FAHRGESTELL/AUFBAU/ANHÄNGER
Fahrgestell: U-Profil-Leiterrahmen F950, 9,5 mm stark; 6×2 mit elektrohydraulisch gelenkter Nachlauf-Liftachse, 4.750 mm Radstand, 19.354 mm Wendekreis; elektrisch unterstützte Hydrolenkung Bosch/ZF Lenksysteme (Übersetzung 17 bis 20: 1); Vollluftfederung mit Achslastüberwachung; Bereifung: VA und NLA 385/55 R 22,5, Antriebsachse 315/70 R 22,5 (Michelin X-Line Energy); elektronisch gesteuerte Scheibenbremsen rundum; 2 x 400-Liter-Tanks Diesel, 80-Liter-Tank AdBlue; Anhängerkupplung Ringfeder; Aufbau: Trockenfrachtkoffer von Närko; Anhänger: Dreiachsiger, luftgefederter Wechselbrückenanhänger von Krone, Typ AD; Leergewicht Motorwagen (ohne Fahrer): 12.500 kg; Testgewicht mit Anhänger: 40.000 kg

